ADHS – Chaos im Kopf auch bei Erwachsenen

ADHS-Selbsthilfegruppen bieten Unterstützung an

Die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung – kurz ADHS genannt – ist meist nur bei Kindern bekannt. Doch auch Erwachsene leiden darunter. Mangelnde Konzentration, Vergesslichkeit, ungebremste Impulsivität und Selbstzweifel machen ihnen das Leben schwer. Eine Betroffene berichtet für das LW von ihren Erfahrungen.

Martina K. ist längst keine Schülerin mehr. Trotzdem liegt auf dem Schreibtisch der 50-Jährigen ein Stundenplan. Auf ihm hat sie für alle fünf Wochentage akribisch vermerkt, was sie wann erledigen muss: Küche fegen, Wohnzimmer aufräumen, Bad machen, Treppe putzen.

Stundenplan gibt Sicherheit

„Ich brauche diese Strukturhilfe. Sie gibt mir Sicherheit, damit ich mich nicht verzettele oder

Ohne Stundenplan geht nichts: Martina K. kann nur mit Plan ihren Alltag erfolgreich meistern.

Foto: Silke Bromm-Krieger

etwas Wichtiges vergesse“, bekennt die Hausfrau. Erst 2001, im Alter von 41 Jahren, erhielt sie nach umfangreichen Tests die Diagnose ADHS. „Endlich hatte das Rumstochern im Nebel ein Ende. Ich war erleichtert zu wissen, was eigentlich mit mir los ist“, schaut sie zurück. Schon als Baby ist sie launisch, später in der Schule unkonzentriert und fahrig. Dennoch gelingt ihr mit Unterstützung der Eltern der Realschulabschluss. Eine Ausbildung zur Bankkauffrau bricht sie ein halbes Jahr vor der Abschlussprüfung ab. „Ich hatte keinen Plan, wie ich die Theorie lernen sollte, konnte mich nicht organisieren, Prüfungsangst stellte sich ein.“ Der Arzt, dem sich Martina K. in ihrer Not schließlich anvertraut, diagnostiziert eine Depression. „Damals in den 80ern war das Bewusstsein für ADHS gering. Ich bekam Antidepressiva, die mich in Watte packten.“ Nach dem Abbruch der Ausbildung hält sich Martina K. mit Jobs über Wasser, macht später eine Ausbildung zur Speditionskauffrau. „Das war mein Traumberuf, in dem ich bis Mitte der 90er Jahre arbeitete.“ Dann holt die Erkrankung sie ein. „Am Arbeitsplatz vergaß ich mir übertragene Aufgaben, litt an mangelndem Zeitgefühl und hatte Leistungseinbrüche. Durch meine Unkonzentriertheit unterliefen mir heftige Fehler“, gesteht sie und setzt hinzu: „Das war auch für mein Umfeld nicht leicht.“ Martina K. verliert aufgrund dieser Probleme ihren Arbeitsplatz und fällt in ein tiefes Loch.

Jedes einzelne Stück Geschirr hat seinen festen Platz im Schrank. „Das gibt mir Sicherheit“, bekennt Martina K.

Foto: Silke Bromm-Krieger

Endlich Licht am Horizont

ADHS – hier gibt es Hilfe:
Medizinische Hilfe und Adressen von regionalen Selbsthilfegruppen gibt es unter: www.zentrales-adhs-netz.de.

Nützliche Lese-Links: www.bv-ah.de, www.ads-ev.de, www.adhs-anderswelt.de, www.adhs.ch

Doch durch einen Zufall sieht sie plötzlich Licht am Horizont. „Als mein kleiner Neffe den Krankheitsbefund ADHS bekam, meinte meine Schwester: „Genau das betrifft dich auch.“ Martina K. lässt sich untersuchen. Tatsächlich stellen die Ärzte ADHS fest. Eine angemessene individuelle Behandlung kann beginnen. Obwohl Martina K. Vorbehalte gegen die Einnahme von Arzneimitteln hat, überwindet sie ihre anfängliche Skepsis. Die erste halbe Tablette mit dem Wirkstoff Methylphenidat schluckt sie sicherheitshalber in der Praxis ihrer behandelnden Ärztin. Die Tablette wirkt bereits nach wenigen Minuten. „Das erste Mal in meinem Leben fühlte ich mich in meiner Mitte, merkte, wie meine angestauten Aggressionen weniger wurden. Erst seit diesem Moment weiß ich, was Leben bedeutet und kann spüren, dass ich mitten im Leben bin“, berichtet sie. Anschließend absolviert sie ein ADHS-Alltagstraining und schließt sich einer ADHS-Selbsthilfegruppe für Erwachsene an. Einmal im Monat kommen dort Betroffene zusammen, um sich gegenseitig zu stärken und über Schwierigkeiten zu sprechen.

Hilfe suchen

Eines bedauert die Frührentnerin, die ihr Leben mittlerweile mit Höhen und Tiefen relativ gut in den Griff bekommen hat: „Nur ein kleiner Teil der erwachsenen Betroffenen sucht sich Hilfe und erhält sie auch.“ Deshalb rät sie allen Betroffenen: „Verstecken Sie sich nicht. Suchen Sie Unterstützung und nehmen Sie Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe auf!“ Silke Bromm-Krieger

Dr. med. Lothar Imhof ist ADHS-Experte und Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie.

Foto: privat/hfr

ADHS bei Erwachsenen
Interview mit dem ADHS-Experten Dr. med. Lothar Imhof
Die LW-Autorin Silke Bromm-Krieger befragte zu dem Thema ADHS bei Erwachsenen Dr. med. Lothar Imhof, Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie.
Bromm-Krieger: Herr Dr. Imhof, wie äußert sich das Krankheitsbild von ADHS und wo liegen die Ursachen?
Imhof: ADHS entsteht biologisch aufgrund genetisch bedingter Hirnstoffwechselstörungen. Zu den Symptomen wie Aufmerksamkeitsdefizite und überbordende Impulsivität kommen Stimmungsschwankungen, Organisationsschwierigkeiten sowie Dünnhäutigkeit und Ãœberreaktionen auf Belastungen hinzu. Ein Leben mit ADHS führt deshalb oft zu belastenden Erfahrungen, Verhaltensweisen und Risiken, beispielsweise einer erhöhten Unfallgefahr. In ihrer Not „behandeln“ manche Betroffene ihre permanente innere Anspannung mit Alkohol oder Drogen und verschlimmern die Situation dadurch nur noch mehr. Die ADHS-Symptome sind konstant vorhanden, können aber phasenweise stark schwanken. Man unterteilt in Aufmerksamkeitsdefizit-Störung mit und ohne Hyperaktivität.

Bromm-Krieger: Ist ADHS heilbar?
Imhof: Nach heutigem Wissensstand ist ADHS nicht heilbar, aber es gibt psychotherapeutische Hilfen und wirksame Medikamente, mit denen Alltag, Beruf und Beziehungen zu bewältigen sind.