Es gibt wohl kaum einen Ort, an dem der Nachwuchs so früh lernen kann, Verantwortung in der Erwachsenenwelt zu übernehmen, wie im landwirtschaftlichen Familienbetrieb. Aber wann sind die Jugendlichen alt genug für „echte Verantwortung“? Peter Jantsch, Diplom-Agraringenieur und systemischer Coach, gibt im Folgenden dazu hilfreiche Tipps und Anregungen.
Ein Beispiel:
Stolz blicken Stefan und Bärbel auf ihren Sohn Max, 15, wie er mit dem neuen Schlepper den Jungviehstall ausmistet. Mit dem Hoflader war er schon unterwegs, seit er mit den Beinen an die Pedale reichte, aber ihn jetzt auf dem großen neuen Schlepper wie einen Erwachsenen arbeiten zu sehen, das war ein besonderer Moment. „Wann hat er eigentlich aufgehört, mit seinem Trettrecker zu spielen und hat unsern Großen genommen?“, fragen sich die Eltern. Ja, wo ist der kleine Junge hin, der in den Sandhaufen für die Betonplatte Burganlagen und Tunnelsysteme gebaut hatte? Ihnen ist es wie gestern.
„Max wirkt so erwachsen, ich frage mich zwischendurch, wie viel ist er schon ein Erwachsener und wie viel ist er noch Kind? Kann er die Verantwortung tragen, die wir ihm übergeben?“, fragt Bärbel. Stefan macht eine großzügige Geste und zeigt auf ihn: „Schau ihn dir doch an, der steht seinen Mann.“ „Ich weiß was du meinst. Aber ich bekomme echt Beklemmungen, wenn ich höre, wie sich seine Klassenkameraden am Wochenende betrinken.“ „Aber Max doch nicht!“ „Max ist noch nicht mal 16. Und gerade sitzt er auf ziemlich viel Geld.“ „Sollen wir wieder den Trettrecker rausholen?“, erwidert Stefan. „Wir sind darauf angewiesen, dass er mithilft!“
Alt an Jahren werden die Kinder alleine – aber wie lernen sie verantwortungsvolles Verhalten? Überträgt man ihnen zu schnell zu viel Verantwortung – teilweise aus echter Notwendigkeit? Dürfen sie erst ins Wasser, wenn sie schwimmen können, oder lernen sie Verantwortung auszufüllen, wenn die Großen ihnen echte Verantwortung übertragen?
Es macht Spaß, Entscheidungen nach eigener Überzeugung zu fällen und Dinge oder Prozesse zu gestalten. Man spürt Freiheit und Wirksamkeit. Auf der anderen Seite heißt es, für die Konsequenzen dieser Entscheidungen geradezustehen. Das können finanzielle Konsequenzen sein (Wer bezahlt, wenn Max beim Ausmisten die Schleppertür beschädigt?) oder auch zwischenmenschliche (Enttäuschung des Gegenübers über eine geplatzte Verabredung, wenn man entscheidet, noch eben einem Nachbarn zu helfen).
Abwägen, unterordnen, stark sein
Jeden Tag gilt es, Entscheidungen zu fällen, kleinere oder von großer Tragweite, und oft innerhalb kurzer Zeit. Dafür benötigt man Sachkenntnis und Erfahrung sowie das Vermögen, resultierende Folgen, auch längerfristige, abschätzen zu können. Man benötigt ferner Stehvermögen sowie das Kontrollieren von eigenen spontanen Impulsen. Gerade letzter Punkt ist besonders wichtig – und besonders unbeliebt. Es ist unabdingbar notwendig, wenn man Aufgaben übernimmt (und somit Verantwortung), spontane Impulse steuern zu können, die etwas anderes wollen („Ich habe jetzt aber keine Lust“, „Das geht mir zu langsam, ich mach schneller“). Verantwortung übernehmen heißt, abwägen zu können, sich einer größeren Sache unterordnen zu können, ohne sich selbst als Person „kleinzumachen“. Denn diese Person muss die Verantwortung ja tragen, und dafür muss sie stark sein.
Impulse kontrollieren
Was befähigt jemanden, die eigenen Lust-/Unlust-Impulse oder die Bereitschaft, sich ablenken zu lassen, zu steuern? Aus der Hirnforschung weiß man, dass die Lust-/Unlust-Impulse aus einem sehr alten Teil des Gehirns stammen und angeboren sind. Babys leben ganz nach diesem Prinzip: Sie schreien, wenn sie Hunger haben oder sich einsam fühlen. Die Fähigkeit, diese Impulse zu kontrollieren, kommt aus einem jüngeren Teil des Gehirns und muss erlernt werden. Bei Babys ist das Vermögen, diese Impulse zu steuern, noch nicht vorhanden und neurobiologisch erst etwa ab dem zweiten Lebensjahr überhaupt erlernbar, weiß Joachim Bauer, Professor für psychosomatische Medizin.
Die Steuerung von spontanen Impulsen oder Trieben setzt die Sicherheit in einem selbst voraus. Diese wird erworben – durch eine innige Beziehung der Eltern zu dem Kind, durch Ermutigung und durch Grenzen: Wir nennen das „Erziehung“.
Wort halten
Interessanterweise fördert das klare Setzen von Grenzen, die eine innere Schlüssigkeit haben (zum Beispiel in Verbindung mit echter Gefahr oder mit logischen Folgen) die Sicherheit der Heranwachsenden zu sich selbst. Kinder prüfen, ob die Eltern das, was sie sagen und leben, auch wirklich so meinen. Diese Prüfung benötigen sie, um Sicherheit ins Leben, in der Verlässlichkeit logischer Folgen und somit in sich selbst finden zu können. Entsprechend gilt das für Ankündigungen: „Wenn du mir hilfst, die Kälber zu tränken, dann gehen wir am Sonntag zusammen angeln.“ Macht das Kind die Erfahrung, dass diese Ankündigen nicht eingelöst werden, so gerät das System von Versprechungen insgesamt ins Wanken und es entsteht Unsicherheit.
Erfahrung kommt durch das Tun
Kinder lernen durch Nachahmung, oft durch Rollenspiele. Sind es am Anfang Harry Potter oder Luke Skywalker, die sie nachahmen, so spielen sie in der Pubertät Erwachsene. Mit dem Größerwerden lösen sich die Kinder aus der Eltern-Kind-Union und werden langsam zu eigenständigen, unabhängigen Menschen. Pubertierende reiben sich an ihren Eltern, um Klarheit über ihre eigene Person zu finden, damit sie autonom, in Teilen ähnlich und in Teilen anders werden können. Dabei hilft es ihnen, wenn die Eltern klar und standfest sind und aushalten, dass ihre Kinder mal so und mal ganz anders auf etwas reagieren. Sich seiner selbst sicher sein, ist notwendig, um Verantwortung übernehmen zu können.
Reifen braucht Zeit
Es geht also nicht darum, möglichst schnell ein Erwachsener zu werden, sondern darum, zu einem starken Selbst zu reifen. Und Reifen braucht Zeit. Erfahrung kommt durchs Tun und kann nicht abgekürzt oder beschleunigt werden. Erfahrung kann auch nicht delegiert oder von jemand anderem gemacht werden.
Es ist gut, seinen Kindern zunehmend echte Verantwortung im echten Leben zu übertragen. Man sollte aber im Bewusstsein haben, dass zwischen Kind-Sein und Erwachsenen-Sein ein langer Übergang ist, auch wenn die Jugendlichen nach außen schon wie Erwachsene wirken.
Die Eltern sind gefragt, den jungen Wachsenden den Rahmen zu halten, in dem sie Erfahrungen in Verantwortungsübernahme sammeln können. Die Herausforderung ist, diesen Reifungsprozess wachsam zu begleiten: je älter und erwachsener die Kinder werden, desto zurückhaltender und mehr aus der Distanz. Das fordert von den Eltern hohe Präsenz – anwesend sein, ohne einzugreifen (außer in echten Notsituationen). Dafür ist es nötig, dass die Eltern in dieser Rolle sicher sind, und sie das Vermögen haben, ihre eigenen Impulse zu kontrollieren („Oh nee, mach das doch anders, so geht das nicht, viel zu umständlich, weniger Gas beim Rückwärtsfahren, nimm die Gabel runter“).
Lernen ist nicht nur das Aneignen von Wissen oder Fähigkeiten, sondern auch die Entwicklung der Persönlichkeit – dieser Prozess hört nie auf („lebenslanges Lernen“). Ein Engpass dabei ist nicht das Wissen, sondern oftmals das Fehlen von Vorbildern. Wenn Eltern sich ihren Kindern als Vorbilder zur Verfügung stellen und an ihrer Rolle als Vorbild arbeiten, gibt es zwei Gewinner: die Kinder und die Eltern.
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Lösungen finden
Max hat sich in dem schmierigen Mist an einer blöden Ecke im Stall festgefahren. Bedrückt kommt er zu Stefan. Stefan will schon Luft holen, um Max Ratschläge zu geben, da erinnert er sich daran, wie seine Frau Bärbel einmal dem schreienden und unglücklichen kleinen Max zur Seite stand, als der Trettrecker umgekippt war. Sie hatte nicht sein Problem gelöst, sondern ihn ermutigt, es selber zu lösen. Und dann hatte es nach paar Versuchen auch geklappt. Da waren die Tränen sofort weg und zufrieden vor sich hin plappernd ging das Leben weiter. Und so gehen Stefan und Max in den Stall, und Stefan fragt: „Und, welche Möglichkeiten siehst du?“
Peter Jantsch www.veraenderung.jetzt