Hof & Familie | LW HEUTE

Jenseits der Idylle

Psychische Belastungen nehmen zu

Jeder fünfte Bundesbürger erkrankt mindestens einmal im Leben an einer Depression. Experten sprechen davon, dass hierzulande derzeit etwa vier Mio. Menschen an einer behandlungsbedürftigen Depression leiden. Gut tut derjenige daran, der die Erkrankung erkennt, Unterstützung sucht und Hilfe annimmt. Eine Möglichkeit für Familienmitglieder in der Landwirtschaft, kompetente Hilfe bei Überlastungen zu erhalten, ist der Kontakt zur „Landwirtschaftlichen Familienberatung“ oder zu einem Sorgentelefon. Wie eine Beratung dort verläuft und was die Berater für die Ratsuchenden tun können, dazu hat das LW bei Christina Meibohm, Fachreferentin und Beraterin bei Familie & Betrieb – Ländliche Familienberatung der Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck, nachgefragt.

Wo ist der Ausweg? Wer kann mir helfen? Stark belastende Probleme führen immer wieder zum Grübeln. Foto: imago images/imagebroker/theissen
Das Symbolfoto deutet an, dass es in schwierigen Situationen oftmals helfende Hände gibt. Stärke zeigen beide Seiten: derjenige, der sie anbietet, und derjenige, der sie annimmt. Foto: imago images/imagebroker

LW: Woran liegt es, dass die Anfragen bei den Landwirtschaftlichen Familienberatungen und Sorgentelefonen steigen?

Christina Meibohm: Wenn ich erlebe, unter welch vielfältigen Anforderungen, Stress und gesellschaftlichem Druck die Landwirte und Landwirtinnen stehen, ist es für mich kaum verwunderlich, dass die eigenen Bewältigungsstrategien oftmals nicht mehr ausreichen, um im Alltag „gesund“ zu bleiben. Der trockene Sommer dieses Jahr mit den hohen Ernteeinbußen, die niedrigen Milchpreise und steigender Rationalisierungsdruck „wachsen oder weichen“ tragen stark zum ökonomischen Druck bei. Die Arbeitsintensität steigt und der Arbeitsplatz ist immer wieder von hoher Unsicherheit geprägt. Fehlende Hofnachfolge und Investitionsstau führen dann auch nicht selten zur Selbstausbeutung. Allein schon diese Bedingungen sind ausreichend, um an persönliche Grenzen zu kommen.

LW: Welche weiteren Stressoren fallen auf?

Meibohm: Persönlich müssen sich Bauern und Bäuerinnen derzeit zusätzlich mit der heftigen Medienschelte und der gesellschaftlichen Kritik an der Landwirtschaft auseinandersetzen. Die gefühlte mangelnde Wertschätzung für die Menschen, die unsere Nahrungsmittel produzieren, und auch mangelnde Wertschätzung im Umgang mit sich selbst können zu Stress, psychischen Belastungen, Burn-Out bis hin zu Depressionen führen. Nicht allen fällt es da leicht, motiviert zu bleiben. Die Frage nach dem Sinn stellt sich.

LW: Welche Erfahrungen haben Sie dazu in der Beratung gemacht?

Landwirtschaftliche Familienberatung der Kirchen

Rat und Hilfe bei der Bewältigung von familiären, betrieblichen oder auch finanziellen Schwierigkeiten

Meibohm: Es gibt einen Ausspruch, der das Problem für mich ziemlich deutlich macht: „Als ich mein Ziel aus den Augen verloren habe, verdoppelten sich meine Anstrengungen.“ Durch ständigen Druck am Arbeitsplatz wird der persönliche Einsatz immer höher. Erholungsphasen, die eigenen Bedürfnisse, die Paarbeziehung und auch freundschaftliche Beziehungen leiden darunter. Konzentrations- und Gedächtnisstörungen stellen sich ein, mit der Folge von Selbstzweifeln und Ängsten, die erwartete Leistung nicht mehr zu schaffen. Kommen dazu noch Belastungen im persönlichen, familiären Bereich, wird es irgendwann zu viel und ist einfach nicht mehr zu schaffen. Die betriebliche und die persönliche Situation sind, wie alle wissen, in der Landwirtschaft untrennbar miteinander verwoben. Das ist die Stärke von Familienbetrieben – aber auch manchmal das Problem.

LW: Nennen Sie bitte ein Beispiel!

Meibohm: Eine Bäuerin erzählte in der Beratung: „Ich bin nur noch müde und leer. Mein Mann und unser Sohn reden kaum noch miteinander, die viele Arbeit wächst uns über den Kopf und nun kommt auch noch die Pflege der Schwiegermutter auf mich zu. Ich kann nicht mehr, kann die Spannungen nicht mehr ertragen, sehe alles nur noch negativ und mag morgens schon gar nicht mehr aufstehen …“ Es ist in dieser Situation oft schwer, sich die notwendige Hilfe von außen zu suchen. Das Gefühl zu versagen herrscht vor. Einen landwirtschaftlichen Betrieb zu führen, ist eine Lebensaufgabe, bei der eben Leib und Seele beteiligt sind.

LW: Wie kann man sich selbst helfen?

Meibohm: Vorzeitig Alarmzeichen erkennen und vor sich selbst einzugestehen, dass es so nicht weitergehen kann, ist der erste mutige Schritt heraus aus der „Abwärtsspirale“, die zur Depression führen kann. Unsere Tipps: Öffnen Sie sich gegenüber anderen Personen und sprechen Sie an, was Sie belastet. Oftmals ist dies schon eine erste Lösung zur Verbesserung der eigenen Situation.

Wichtig sind Phasen für private „Auszeiten“ und Pausen, Zeit zum Kraftschöpfen. Suchen Sie Unterstützung in der Familie, im Freundeskreis oder auch durch Beratung von außerhalb. Und im Alltäglichen: Halten Sie die Mittags- und Kaffeepausen ein und halten Sie den Feierabend hoch! Einander auch einmal zu loben und die Anerkennung zu zeigen, wirkt oft Wunder.

LW: Wie können Familienmitglieder mithelfen?

Meibohm: Achten Sie auf sich und die Menschen in Ihrer Umgebung. Sind Anzeichen einer Depression nicht zu übersehen, sollten Sie den Betroffenen unbedingt darauf ansprechen und ihm dabei helfen, professionelle Hilfe aufzusuchen. Oft hilft es einem Erkrankten, wenn ein Angehöriger einen Termin ausmacht und ihn dann auch gegebenenfalls zum Arzt begleitet, denn krankheitsbedingt schaffen viele Betroffene das nicht alleine. Aber auch wenn die Diagnose „Depression“ gestellt wurde, sind Angehörige sehr wichtig: Sie können im Alltag helfen, die Behandlung unterstützen und dem Betroffenen immer wieder zeigen „Ich bin für dich da“. Gehen Sie aber als Angehörige oder Freunde achtsam mit sich um. Es hilft den Betroffenen nicht, wenn sie sich selbst verausgaben.

LW: Was ist die Aufgabe der Berater bei der Landwirtschaftlichen Familienberatung?

Meibohm: Zunächst sei erwähnt, dass wir alle einen landwirtschaftlichen Hintergrund haben. Viele Berater arbeiten selbst in der Landwirtschaft. Für die Beratungsarbeit wurden wir in entsprechenden Ausbildungen qualifiziert und bilden uns stetig weiter. Viele von uns bringen Zusatzqualifikationen mit, wie zum Beispiel Mediation, Coaching, Sozialtherapie, systemische Familienberatung und mehr.

Jeder Mensch hat eine Vielzahl von Fähigkeiten und Bewältigungsstrategien, die ihm jedoch nicht immer zur Verfügung stehen. In den Beratungsgesprächen geht es darum, diese Fähigkeiten wieder wahrzunehmen und manchmal sogar neu zu entdecken sowie Hindernisse zu überwinden. Die Berater unterstützen die Ratsuchenden dabei, ihre eigenen Ressourcen und Kraftquellen zu entdecken. Es werden Situationen gesucht, in denen bereits Herausforderungen erfolgreich bestanden wurden. Dies kann den Blick wieder weiten und es entsteht Bewegung. Wenn es wieder möglich ist, die eigenen Fähigkeiten wahrzunehmen, Ziele, Wünsche und Bedürfnisse zu entwickeln, sind schon wertvolle Kraftquellen gefunden worden.

Die Beratungsarbeit ist dabei ein begleitender Prozess. Die vertraulichen, unabhängigen Gespräche finden entweder in einer der Beratungsstätten oder auf dem Betrieb statt. Durch Begleiten, Zuhören und Sortieren ermutigen wir Berater die Ratsuchenden, gemeinsam nach tragfähigen Lösungen zu suchen. Ein Berater nahm einmal das Bild eines liegengebliebenen Autos mit leerem Tank zur Hilfe: In den Familien oder persönlich ist auch oft „der Tank“ leer. Es fehlt der „Sprit“ oder der „Spirit“= der „Geist“, die Begeisterung, die antreibt und Kraft gibt.

Die Fragen stellte Stephanie Lehmkühler – LW 42/2015
Raus aus der Zwickmühle Landwirtschaftliche Familienberatung hilft, neue Wege zu finden
Haltung bewahren, trotz widriger Umstände Wie man mit schwierigen Situationen umgehen kann
Ein Indianer kennt keinen Schmerz Depression wird bei Männern oft tabuisiert