Der Markt kennt keine Preisgrenzen

Was man aus der Milchkrise lernen sollte

Der zweite Tag der Landwirtschaftlichen Woche Nordhessen, vorige Woche in Baunatal, stand ganz im Zeichen der Milcherzeugung. Referenten beleuchteten die Situation der Betriebe, welche die jüngste Milchkrise bis dato überstanden haben. Weiterhin stellten sie betriebliche Instrumente vor, die im Einzelfall Landwirten helfen können, um ihre Betriebe besser vor Unwegsamkeiten schützen zu können.

Günther Friedrich vom Vorstand der ZBH eG führte durch die Veranstaltung in Baunatal.

Foto: Moe

Eine Einordnung der wirtschaftlichen Lage der Betriebe aus finanzieller Sicht übernahm Dr. Rüdiger Fuhrmann von der Geschäftssparte Agrar-Banking der Norddeutschen Landesbank, NordLB. Der gebürtige Nordhesse freute sich zum Vortrag bei der „Grünen Woche in Hessen“, wie er diese Veranstaltung nennt, zu reden und stellte fest: „Heute können Landwirte viel schneller als früher Kuhplätze schaffen. Sie nutzen schlagkräftige Technik und sie wussten schon vor der Milchkrise, dass globale Entwicklungen immer mehr Einfluss auf ihr Handeln haben. Er fragte die Hörer im Saal, ob die Milch­erzeuger mit der Ausweitung der Produktion umsichtig rea­giert haben, insbesondere seit dem Ende der Quotenregelung 2015. Er meinte, jeder Landwirt habe für seinen Betrieb unternehmerisch gehandelt und müsse dies auch tun.

Aus seiner Sicht darf man die Erwartungen an die Politik zur Hilfe bei Krisen nicht zu hoch bewerten, wie auch das EU-Programm zur Mengenreduzierung deutlich mache. Für ihn hat es lediglich symbolischen Charakter, rettet aber nicht einen einzigen Betrieb und hilft auch nicht, das Preistal zu verkürzen. „Wen trifft die Schuld?“, fragte der Ökonom. Vor allem: „Was sollte man aus der jüngsten Krise lernen?“ Er setzte an den Kosten der Erzeugung an, es sei die einzige Möglichkeit des Landwirts, den Erfolg der Milcherzeu­gung zu erhöhen. Er analysierte, wie sich die Branche in den letzten Jahren verhalten hat und stellte für die letzten zwei Jahre mit dem Ende der politikinduzierten Mengenregulierung fest, dass sich sowohl die Politik, als auch die Märkte geändert haben.

Dr. Rüdiger Fuhrmann, NordLB: der Strukturwandel in der Milcherzeugung ist auch weiterhin erforderlich.

Foto: Moe

Der Entwicklung sind die Erzeuger mit einer breiten Palette an Reaktionen gefolgt. Um dies zu erläutern, warf er einen Blick auf die Entwicklung des Milchmarktes seit Beginn des Jahrtausends mit der Liberalisierung des Milchquotenhandels, der Milchquotenbörse im Jahr 2002, der vier Jahre darauf eine Absenkung des Interventionspreisniveaus für Butter und Magermilchpulver und die Einführung einer Milchprämie folgten, bevor es ab dem Jahr 2006 zur schrittweisen Erhöhung der Milchquoten kam, der schließlich die Abschaffung der Milchquotenre­gelung im Frühjahr 2015 folgte.

Stottert die Weltnachfrage, rotieren die Agrarpreise

Die Finanzkrise im Jahr 2008 hat den Agrarmärkten kurzzeitig zwar eine Preisdelle beschert, sie ist seiner Ansicht nach aber nicht für die folgende Entwicklung am Markt ausschlaggebend. Ursache aus seiner Sicht ist die scheinbar nicht zu sättigende Nachfra­ge. Die Weltbevölkerung hat schon vor etwa zwei Jahren die 7 Mrd. Grenze über­schritten. In dem neuen Umfeld der Agrarmärkte mit Marktliberalisierung auf der einen Seite und laufend wachsen­der Nachfra­ge auf der anderen bei insgesamt freundlichen Agrarmärkten bis 2008/09 registrierten die Milcherzeuger, dass jede zusätzliche Menge von den Märkten aufgenommen wird. Das hatte Einfluss auf die Investi­tionsfreude, so Dr. Fuhrmann.

Pessimismus folgte zu großer Optimismus

Der Agronom folgerte, dass sich die Phase von 2007 bis 2008 massiv von der heute unter­schei­det. So stieg Ende 2008 die Investitionsbereitschaft im Milchviehsektor stark an, während zuvor vielfach Pessimismus bei jungen Landwirten herrschte – wie derzeit auch. In der Phase von Mitte 2009 bis Anfang 2014 stiegen die Erzeugerpreise tendenziell stetig an, obwohl die Mengen erhöht wurden. Das hat dann laut Fuhrmann zu Optimismus bei den Landwirten geführt, der sie in den letzten Jahren zu zusätzlichen Investitionen anregte.

Er gab relativ einfache Erklärungen ab, weshalb immer mehr investiert worden ist. Neben der wachsenden Weltbevölkerung ist es der steigende Wohlstand. Mit der Folge: „Wir wussten, dass wir künftig volatile Preise haben. Wir dachten aber, bei Milch fallen wir nicht unter die 30 Cent-Grenze je Liter und bem Weizen nicht unter 20 Eu­ro/dt. Tatsächlich wissen wir jetzt, der Markt kennt keine Preisgrenzen.“ Muss man also in die Märkte eingreifen? Daraufhin Fuhrmann: „Man muss in die Märkte eingreifen, wenn sie nicht funktionieren. Aber die Märkte haben funktioniert“, lautete seine Antwort. Die Märkte sind nicht mehr die gleichen, wie vor fünf Jahren. Was ist auf der Verbraucherseite passiert? China hat jahrelang Wirtschaft-Wachstumsraten von weit über zehn Prozent gehabt. Jetzt „nur“ noch rund sieben Prozent. Die Nachfrage wächst in Asien weiter, aber sie wächst langsamer. Sie ist in der letzten Zeit nicht so stark angestiegen, wie das Angebot. Das lag auch daran, dass das Russ­land­embargo umgesetzt wurde.

Dr. Gerold Kutscher, GHV Darmstadt, informierte über die Milchkasko-Versicherung.

Foto: Moe

Investitionsbereitschaft in zehn Jahren verdoppelt

Der Rohölmarkt ist für die Nachfrage von Agrarrohstoffen von großer Be­deutung. „Wenn die Weltnachfrage stottert, wirkt das auf die Preise für Agrarprodukte“, so der Finanzmann. Die Investitionsbereitschaft der Betriebe hat sich von 2014/15 im Vergleich zu zehn Jah­ren zuvor verdoppelt, von etwa 100 Euro je ha auf 227 Euro je ha. Die Bestandsentwicklung bei Milchvieh ist in Hessen ist im Jahr 2003 von 29 Kühen auf 46 Tiere im Jahr 2015 gestiegen. 2009 waren es 34 Kühe, danach wurde ein steiler Anstieg der Bestände registriert.

Investitionsgüter in zehn Jahren um ein Drittel teurer

Investitionsgüter haben sich deutlich verteuert. Das Jahr 2005 wurde indiziert, also gleich 100 gesetzt und es ergab sich für 2016 ein Plus von 30 Prozent. Das Investitionsgut ist damit in den letzten zehn Jahren um fast ein Drittel teurer geworden. „Wenn von Investitionen die Rede war, hatten alle nur die Marktpreise im Blick, aber niemand hat von den Kosten gesprochen“, sprach Fuhrmann Fehlverhalten bei Inves­titions­ent­scheidungen an. Teils werden nach positiven Jahren die Produktionsfaktoren zu wenig berücksichtigt. Die Märkte wurden überschätzt und es wurde kaum auf die Kosten der Erzeugung geschaut. Von 2005 bis 2016 sind aber auch die Betriebsmittelpreise relativ parallel zu den Erzeugerpreisen gestiegen. Weiteres Beispiel dafür sei die Pachtentwicklung, die Kosten für Boden hat man aus den Augen verloren. Der Preis einer Neu­­verpachtung in Hessen lag laut Statistischem Landesamt 1999 bei circa 160 Euro/ha, 2015 bei 290 Euro/ha. „Bei Pachtzahlungen haben Sie einen Kostenblock, bei dem Sie erst später die Folgen spüren, weil die meist höheren Preise einer Neuverpachtung sukzessive auf bestehende Pachtverträge wirken“, ergänzte Dr. Fuhrmann.

Kreditzinsen sind von 4,5 auf 0,6 Prozent gefallen

Die Märkte gehen aber nicht nur in eine Richtung. Wenn die Märkte gut laufen und auch der weniger effizient Produzierende Erfolg hat, beginnt auch dieser zu investieren. Auffällig sei, dass auch das untere Drittel der Betriebe nach 2009 stark investiert hat. „Es haben nicht immer nur die Richtigen investiert“, stellte der Agrar-Finanzwirt fest.

Arno Werner, MS Management-Service GmbH, erläuterte die Ertragsschadensversicherung.

Foto: Moe

Neben der Vernachlässigung der Kostendisziplin, traten als weitere Finanzierungsfehler bei Betrieben auf, weil sie zu schnell gewachsen sind und daher ungenügend Vermögensreserven sowie Liquiditätspuffer gebildet haben. „Das fällt einem dann erst auf die Füße, wenn die Märkte sich drehen“, folgerte er. Der Banker sieht die Hauptursache in der Niedrigzinspolitik, er sagte „Das Ganze ist durch ein irreguläres Kapitalsystem angeregt worden. Kapital kostet ja nichts mehr.“ Das Zinsniveau ist bei zehnjährigen Investitionskrediten bei Einstandszinssätzen von etwa 4,5 Prozent 2007 auf circa 0,6 Prozent im Jahr 2016 gefallen. Die Zinsentwicklung befördert die Investitionsneigung und führt auch dazu, dass die Investitionskosten „lockerer“ kalkuliert werden. Beispielsweise liegen die Kosten beim Bau eines Milchvieh­stalles zwischen 7 000 und 12 000 Euro je Kuhplatz „je nach Ausstattung“, die Obergren­ze ist aus betriebswirtschaftlicher Sicht nicht immer gerechtfertigt. Blickt man auf die Bilanzen der Betriebe, so betrug der Gewinn im Jahr 2002/03 etwa 608 Euro, im Jahr 2012/13 820 Euro je ha. Allerdings haben sich auch die Verbindlichkeiten deutlich erhöht von 1 900 Euro 2002/03 auf 2 224 im Jahr 2012/13. Betriebsleiter dürfen ihre Entscheidungen zur Investition seiner Ansicht nach nicht an Erwartungen an die Märkte orientieren, sondern daran, wie ihr Be­trieb hinsichtlich der Produktionskosten im Vergleich zu den Wettbewerbern liegt. Bereits in der Zeit, wenn der Betrieb nicht in einer Krise ist, sollte ein Liquiditätsplan erstellt werden. Mittels des Liquiditätsplans kann der Landwirt der Bank die Perspektiven seines Vorhabens in finanzieller Sicht deutlich machen.

Wie wettbewerbsfähig sind die Betriebe in Deutschland?

Der langfristig positive Trend auf dem Milchmarkt wird sich nach Einschätzung des Ökonomen fortsetzen. Hier sieht er keine Veränderung der Fundamentaldaten. Allerdings stellt sich für ihn die Frage, wie stehen die Betriebe in Deutschland und Europa künftig im Wettbewerb dar? Tierhaltungsrestriktionen verteuern die Erzeugung. „Um mithalten zu können und wettbewerbsfähig zu bleiben, werden wir noch weiteren Strukturwandel in der Milchviehhaltung brauchen“, so Fuhrmann. Die Marktvolatilitäten der vergangenen Jahre werden auf Dauer bleiben, ist er überzeugt. Die Investitionserfordernisse zur Stärkung der heimischen Betriebe im internationalen Wettbewerb bleiben aber auch künftig hoch, so dass die landwirtschaftlichen Unternehmer weiter investieren müssen. Sein Plädoyer an die Landwirte lautet: „Eine Marktkrise darf nicht zur Unternehmenskrise werden.“ Investitionen antizyklisch zu tätigen, riet er den Landwirten im Saal und stellte fest: „Im letzten Jahr konnte man zu deutlich niedrigeren Kosten zusätzliche Stallkapazität bauen, als in den Boom-Jahren zuvor.“

Milchkasko greift bei „Milchunfällen“

Dr. Gerold Kutscher von der Ge­meinnützigen Haftpflicht-Versicherungsanstalt Darmstadt (GHV) informierte über die Milchkasko-Ver­sicherung der GHV, die man vor einem Jahr neu im Portfolio der GHV aufgenommen hat. In der GHV-Tierversicherung haben sich alle ehemals selbständigen Tierversi­cherungen in Hessen zusammen­geschlossen.

Die Versicherung ist so angelegt, dass sie den direkten Leistungsverlust entschädigt, sie entschädigt den Strafabzug für 30 Tage, plus die Laborkosten. Die Versicherungs­summe errechnet sich aus der Anzahl der Tiere und der jährlichen Milchleistung. Versichert sind Betriebe der Milchkas­ko zum Beispiel, wenn die Kühlanlage versagt, Bedienungsfehler auftreten oder es Verunreinigungen in der Milch gibt. Ausgeschlossen sind Marktpreisschwankungen oder Zellzahlen, wie sie eher in den Sommermonaten auftreten können. Wird zum Beispiel eine Hemmstoffbelastung (Antibiotika) in der abgelieferten Milch festgestellt, ist die Milch unbrauchbar. Das führt zu einer Kürzung des Milch­geldes, zum Beispiel für dreißig Tage mit fünf Cent je kg Milch. Auch fallen Entsorgungskosten an. Hat dann der Milcherzeuger eine Milchkaskoversicherung abgeschlossen, werden finanzielle Einbußen komplett entschädigt, „als sei der Schaden nicht entstanden“, sagte Dr. Kutscher. Dazu zählen die Entschädigung der zum Verkauf vorgesehenen Milch, die Kosten für die Entsorgung und die entgangenen Einnahmen wegen der Reduzierung des Milchgeldes. „Es landet mehr Milch in die Gülle, als erwartet“, so Dr. Kutscher. Weitere Erfahrung: „Bei großen Betrieben passieren weniger vermeidbare „Milchunfälle“, wie das Melken behandelter Tiere im Tank statt in der Kanne, als bei mittelgroßen Betrieben.

Wann Tierpolicen sinnvoll sind

Mit dem Wachsen der Betriebe und fortschreitender Spezialisierung rücken auch Fragen der Absicherung der Produktion und Erlöse in den Mittelpunkt der Existenzsicherung des landwirtschaftlichen Unternehmens. Arno Werner, Leiter der MS Ma­nagement-Service GmbH aus Gießen, informierte in Baunatal über die Ertragsschadensversicherung der Ver­einigten Tierversicherung (VTV). Werner stellte fest, gute Agrarpolicen seien nach einem Bausteinprinzip konzipierte Versicherungslösungen, mit denen man sich einen individuellen be­trieblichen Versicherungsschutz zusammenstellen kann. Als Beispiel beschrieb er einen Versicherungsfall: Ein Milchviehbetrieb mit 400 Kühen hatte in seiner Herde lange Zeit Zellzahlen im Mittel von 150 000 je ml Milch. Als Folge einer Hitzeperiode stiegen die Zellen auf über 400 000 je ml an, mit der Fol­ge, dass die Molkerei den Auszahlungspreis kürzte. Der Deckungsbeitragsver­lust des Landwirts sei in diesem Praxisfall durch die im Betrieb bestehende Ertragsscha­densversicherung re­gu­liert worden.

Moe  – LW 3/2017