Mehr Weidetierhaltung für die Insektenpopulation

Bürokratieabbau und Fördermaßnahmen notwendig

Der Insektenforscher Dr. Herbert Nickel, freiberuflicher Ökologe, sprach mit Agra Europe über die Weidetierhaltung als Schlüsselfaktor für den Artenschutz, und welche politischen Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, damit Landwirte für kooperativen Naturschutz angemessen entlohnt werden können.

Beweidete Flächen sind ein wichtiger Lebensraum, auch für zahlreiche Insektenarten.

Foto: imago/Silas Stein

Herr Nickel, die Artenvielfalt nimmt weltweit ab. In der Forschung wird von einem neuen Massenaussterben gesprochen. Sie vertreten die These, dass der Artenverlust in Europa auch durch einen Rückgang der Weidetierhaltung verursacht wird. Können Sie das erläutern?

Herbert Nickel: Ich meide diese gängigen Superlative eher und plädiere für eine pragmatische Problemlösung. Unsere Landschaften wurden über Millionen von Jahren von großen Pflanzenfressern geprägt. In Europa lebten einst die gleichen großen Tiere, die wir heute aus Afrika kennen: Elefanten, Nashörner, Büffel, Wildrinder, Pferde und viele andere. Diese Tiere spielen eine zentrale ökologische Rolle. Ihr Dung dient Insekten als Lebensgrundlage, Aas ernährt eine Unzahl anderer Tiere und Pilze und durch ihre Wanderungen verbreiten sie Samen über weite Strecken. Außerdem fressen sie Pflanzen selektiv. Manche bevorzugen sie, andere lassen sie stehen. Auf diese Weise entsteht eine strukturreiche Weidelandschaft mit hoher Artenvielfalt.

Es mangelt heute also an Pflanzenfressern?

Nickel: Aus ökologischer Sicht: ja! Elefanten und Nashörner sind hierzulande natürlich längst ausgestorben. Über Jahrtausende hat aber der Mensch mit Nutztieren die Landschaft gestaltet und damit gewissermaßen die ökologische Rolle der großen Wildtiere ersetzt. Mit den großen Agrarreformen Anfang des 19. Jahrhunderts hat dann ein Wandel eingesetzt. Die vorher gemeinschaftlich genutzten Weideflächen, die Allmenden, wurden aufgeteilt, die meisten Weidetiere eingestallt und die Bewirtschaftung intensiviert. Der heute sichtbare Artenschwund hat also tatsächlich schon vor 200 Jahren begonnen.

Was schlagen sie vor?

Nickel: Ich werbe im Sinne des Naturschutzes darum, dass wir künftig wieder mehr landwirtschaftliche Nutztiere auf „Wilden Weiden“ sehen. Was ich mir wünschte, wäre, dass die Landwirte selbst auch stärker mitredeten, damit man die Konzepte stärker auf sie zuschneiden kann.

Wie könnte ein solches Beweidungskonzept aussehen?

Nickel: Ackerböden mit hohen Erträgen fallen natürlich von vornherein raus. Ich denke an Auen, trockene Hänge oder wenig produktive Mittelgebirgsstandorte. Also an Flächen, auf denen nur wenig Produktion verloren ginge, aber für den Natur- und Landschaftsschutz enorm viel gewonnen werden könnte. Diese Grenzertragsstandorte lassen sich gut ganzjährig mit robusten Rindern beweiden – allerdings nur in einer sehr geringen Besatzdichte. Für die Wilden Weiden kalkulieren wir mit etwa 0,3 bis 0,6 Rindern pro Hektar. Idealerweise umfasst eine solche Weidefläche mindestens 50 Hektar, damit eine naturnahe Dynamik entstehen kann und sich der Aufwand für den Betrieb rechnet.

Das klingt betriebswirtschaftlich dennoch nicht sehr attraktiv.

Nickel: Wenn die Gesellschaft mehr Naturschutz will, dann muss sie ihn auch finanzieren. Es braucht Förderlinien, die eine solche extensive Bewirtschaftung ermöglichen. Wir sprechen von etwa 1 000 Euro pro Hektar und Jahr. Da wird ein Landwirt mit einem guten Ackerstandort zwar nur mit den Achseln zucken, aber auf schwächeren Böden kann dieser Betrag durchaus eine attraktive Entlohnung sein.

Die öffentlichen Kassen stehen unter Druck. Warum sollte man gerade hierfür die Mittel erhöhen?

Nickel: Ich spreche von schon vorhandenem Geld aus dem Brüsseler Agrartopf. Zum einen gibt es in vielen Bundesländern bereits Förderprogramme für die Weidewirtschaft, die sich mit einigen Anpassungen auf Wilde Weiden ausrichten ließen. Zum anderen kommt die Forderung nach kooperativem Naturschutz auch aus der Landwirtschaft selbst. Wenn wir wollen, dass Landwirte aktiv zur Biodiversität beitragen, dann müssen sie für diese Leistung entlohnt werden, genauso wie für jede andere Form von Wertschöpfung. Die Forderung, in Deutschland Auen zu renaturieren, wird immer lauter, besonders nach jedem neuen Hochwasserereignis.

Das Umweltbundesamt hat sich kürzlich auch dafür ausgesprochen.

Nickel: Ja, dadurch könnten gerade in Kombination mit einer extensiven Beweidung viele Synergien genutzt werden. Naturnahe Auen sind gut für den Hochwasserschutz, den Klimaschutz und für die Artenvielfalt. Wenn es gelingt, längere Flussabschnitte für die Beweidung zu gewinnen, dann könnte ein ganzer Biotopverbund geschaffen werden. Hinzu kommt: Auen sind oft Überschwemmungsböden und damit keine wertvollen Weizenstandorte. Der Landwirtschaft ginge nur wenig verloren. Die Herausforderung liegt trotzdem darin, dass die ökonomischen In­teressen der Landeigentümer und der Bewirtschafter der Auen angemessen berücksichtigt werden müssen. Und dafür sind finanzielle Anreize und attraktive Ausgleichsmaßnahmen erforderlich.

In Berlin und Brüssel will man Bürokratie abbauen – was fällt Ihnen da bei der Weidehaltung ein?

Nickel: Weidetierhaltung ist heute ein bürokratisches Monster und muss vereinfacht werden. Wichtig wäre zum Beispiel, dass die für den Naturschutz wichtigen Landschaftselemente in die förderfähige Weidefläche einbezogen werden. Die EU-Regelungen geben das zwar her, in der Praxis tut man sich auf Ebene der Bundesländer aber oft schwer. Aus Naturschutzsicht braucht es zudem mehr Augenmaß bei veterinärrechtlichen Auflagen. Die übliche präventive Parasitenbehandlung bei Weidetieren schadet der Insektenfauna enorm. Sinnvoller wäre es, wenn der Landwirt den Gesundheitszustand seiner Tiere beobachtet und nur bei tatsächlichem Befall behandelt. Ein weiterer Punkt war lange Zeit die viel zu komplizierte Genehmigung für den Weideschuss. Das wird heute aber zum Glück schon pragmatischer gehandhabt.

age – LW 46/2025