„Wir sind weniger geworden, sind aber kein Auslaufmodell“

Versammlung des KBV Marburg-Kirchhain-Biedenkopf

Die Regale in den Supermärkten bei uns sind voll. Deshalb können sich die Meisten nur schwer vorstellen, dass die Welt bei der Nahrungsmittelerzeugung seit geraumer Zeit auf Reserve fährt, und in Deutschland vernichten wir unsere fruchtbaren Böden. Verbrauch und Vernichtung von landwirtschaftlichen Flächen war Schwerpunktthema der Jahresmitgliederversammlung des Kreisbauernverbandes (KBV) Marburg-Kirchhain-Biedenkopf, zu der vorletzten Samstag etwa 100 Teilnehmer nach Weimar-Roth gekommen waren.

Karsten Schmal, Präsident des Hessischen Bauernverbandes, sprach zu aktuellen agrarpolitischen Themen.

Foto: Manfred Schubert

Neben diesem bereits heute die Lebensgrundlage aller Menschen bedrohenden Problem drücken die Landwirte weitere Sorgen wie sinkende Erzeugerpreise, deren Lösung sich teils vergleichsweise einfacher bewerkstelligen lassen sollte. Hessens Finanzminister Dr. Thomas Schäfer räumte ein, dass die Situation für die Landwirte alles andere als einfach sei. Zurzeit sehe man an den Milchpreisen, was passiere, wenn in Europa der Protektionismus wieder einreiße. Karin Lölkes, KBV-Vorsitzende, gab ihm die Forderung mit, für die Zahlung der Ausgleichsmittel an die Bauern pünktlich Mitte Dezember zu sorgen.

Karsten Schmal, Präsident des Hessischen Bauernverbandes, sagte: „Wegen der verspäteten Zahlung kommt es zu geplatzten Krediten und Rücklastschriften. Viele stellen sich gar nicht vor, was alles an der pünktlichen Auszahlung hängt.“ Im Januar hätte daher sein Telefon nicht mehr stillgestanden, aber auch andere Probleme wie Getreide- und Milchpreise, die angekündigte Düngemittelverordnung, die Glyphosat-Diskussion sowie Flächenverbrauch führten dazu, dass er, nun 92 Tage im Amt, von morgens bis abends unterwegs sei. Aktuell benötige Frankfurt 500 ha für Wohnungsbau, vor allem viele Pachtflächen drohten dafür verloren zu gehen.

Auch an die älteren Betriebsleiter denken

Lölkes erinnerte Bürgermeister und Gemeindevertreter, dass die Instandhaltung von Gräben und Feldwegen Pflichtaufgaben der Gemeinden seien: „Wir werden da nicht locker lassen.“ An Landrätin Kirsten Fründt appellierte sie, dass der Fachbereich Ländlicher Raum Hilfestellung bieten müsse, da künftig Antragstellungen nicht mehr in Papierform, sondern auf CD erfolgen müssen. Viele Landwirte seien bereits älter. Auch bemängelte sie, dass trotz eines wirtschaftlichen Volumens von 70 Mio. Eu­ro das Wort Landwirtschaft auf der Homepage des Landkreises nicht vorkomme. Fründt kündigte weitere Schulungen zur CD-Abgabe an und begrüßte die „gute Anregung“. „Auf der neu gestalteten Homepage wird die Landwirtschaft auf jeden Fall anders abgebildet sein“, versprach sie. Zum Thema Flächenverbrauch merkte sie kritisch an, dass der Landkreis für im Landkreis Gießen aufgestellte Windkraftanlagen Ausgleichsflächen abgeben solle: „Ich finde, das geht zu weit.“

Binnen 40 Jahre 80 Prozent weniger Betriebe

Der neue Kreislandwirt Frank Staubitz fürchtet finanzielle Probleme für viele Betriebe: „Mir graut vor den nächsten Monaten“, sagte er. 1975 gab es noch 5 800, heute nur noch 1 200 land­wirtschaftliche Betriebe im Kreis, 80 Prozent hätten in 40 Jahren aufgegeben. Dennoch meinte er: „Wir sind weniger geworden, doch kein Auslaufmodell, denn weiterhin sind hochwertige Lebensmittel wichtig.“ Die Öffentlichkeitsarbeit müsse verstärkt werden, die Betriebe ihre Tore öffnen, um oft einseitiger Medienberichterstattung entgegenzutreten, und vor allem einig sein und an einem Strang ziehen, forderte er.

Der Vorstand des Kreisbauernverbandes, von links: Walter Müller (ausgeschieden), Geschäftsführerin Anja Püchner, Matthias Pitzer, Johannes Wagner (ausgeschieden), Heinz-Wilhelm Trümner, Stefan Lölkes, Reiner Nau, Erwin Boland, Jens Eidam, Vorsitzende Karin Lölkes, Josef Nau, Burkhard Müller, Günter Kraft, Stefan Gruß und der neue Kreislandwirt Frank Staubitz.

Foto: Manfred Schubert

KBV-Geschäftsführerin Anja Püchner stellte die Zahlen vor. Von rund 50 000 ha im Kreis werden 39 368 ha von den 2 077 KBV-Mitgliedern bearbeitet. Deren Zahl sank im Vorjahr vor allem durch Betriebsaufgaben um 33.

Kraft ist stellvertretender Vorsitzender

Satzungsgemäß war ein Drittel des Vorstands neu zu wählen. Dabei wurde der Vorstand etwas verkleinert, da für die zwei ausscheidenden Mitglieder Ulrich Zick (Fronhausen) und Markus Zimmer (Emsdorf) keine Nachfolger kandidierten. Karin Lölkes würdigte Heinrich Müller, der 25 Jahre lang die Arbeit im Vorstand mitgeprägt habe, und ihren Stellvertreter Johannes Wagner, der seit 1997 dem Vorstand angehörte.

Neuer stellvertretender Vorsitzender wurde Günter Kraft (Reimershausen), für den aller 91 Stimmberechtigten votierten. Als Vorstandsmitglieder bestätigt wurden Stefan Lölkes (Mellnau), Heinz-Wilhelm Trümner (Schiffelbach), und Jens Eidam (Roth), neu dabei ist Burkhard Müller (Mornshausen), der damit in die Fußstapfen seines Vaters trat.

Deutschland nicht mehr zur Selbstversorgung fähig

Zum Abschluss hörten die Teilnehmer den Gastvortrag „Wachsende Weltbevölkerung erfordert den konsequenten Schutz der Agrarflächen“ von Dr. Günther Lißmann, Dezernatsleiter Landwirtschaft beim Regierungspräsidium Kassel. Die meisten Vertreter der Politik waren da schon nicht mehr anwesend. Dr. Helmut Otto, Leiter des Fachbereichs Ländlicher Raum und Verbraucherschutz beim Landkreis, merkte an, es wäre gut, wenn dieser Vortrag als Pflichtvortrag im Landtag gehalten würde. Jedes Jahr gingen 7,5 Mio. ha und somit ein halbes Prozent der Agrarfläche weltweit verloren, mehr als die Hälfte dessen, was Deutschland zur Verfügung stehe. Dabei gebe es bereits heute kaum Lebensmittelreserven. „Wir bewegen uns bei der Nahrungsmittelerzeugung auf einem schmalen Grat. Die niedrigen Preise heute sind eine Ausnahme. In den letzten Jahren gab es gute Ernten“ erläuterte er. Wenn es durch Trockenheit oder Ãœberschwemmung zu Missernten käme und zu Hungersnöten in Afrika, dann würden die heutigen Flüchtlingszahlen nur noch „wie ein laues Lüftchen“ erscheinen, warnte der Referent.

Schubert  – LW 11/2016