300 Kühe, 3 000 Schweine

VLF-Vortragsabend über die Agrarstruktur in Hessen 2030

Dr. Günther Lißmann, Dezernatsleiter Landwirtschaft im Regierungspräsidium Kassel sprach kürzlich im Rahmen einer gemeinsamen Veranstaltung des VFL Gießen und des VLF Grünberg zum Thema „Agrarstruktureller Wandel in Hessen – Ursachen und Konsequenzen für die Zukunft“. Er betrachtete die Änderungen der Agrarstruktur in den vergange­nen Jahrzehn­ten und führte sie fort bis zum Jahr 2030, denn er ist sicher: „Die Entwicklung wird so weiter gehen und wir können wissen, was in 20 Jahren ist.“

Dr. Günther Lißmann vom Regierungspräsidium Kassel sprach bei den VFL Gießen und Grünberg über den agrarstrukturellen Wandel in Hessen.

Foto: Michael Schlag

Lißmann blickte zurück auf die 60er Jahre, als er den eigenen Betrieb mit „20 Kühen, 20 Hektar“ bewirtschaftete. Für damalige Verhältnisse habe man „groß gebaut“, als Spitzentechnik wurde der Stall mit Rohrmelkanlage und Schwemmentmistung ausgestattet und „man hat gedacht, das ist die Welt,“ aber schon nach sechs Jahren hätten sich Technik und Größenordnung überlebt. Kaum geändert hätten sich von 1970 bis heute die Erzeugerpreise für die Landwirtschaft. Der Getreidepreis stehe unverändert bei 20 Euro/dt, Schweinefleisch brachte damals wie heute (umgerechnet) 1,50 Euro pro kg Schlachtgewicht, Milch 30 Cent pro kg. Bereinigt um die Inflation verbirgt sich hinter diesen nominalen Werten aber real ein enormer Preisrückgang. Gemessen an der Kaufkraft von 1970 erhält der Erzeuger heute pro Dezitonne Getreide nur noch 7 Euro, für Schweinefleisch 50 Ct/kg und für Milch 10 Ct/kg. „Wenn Sie da mithalten wollen, bleibt nichts übrig, als mehr zu produzieren“. Schritthalten mit der allgemeinen Einkommensentwicklung könne die Landwirtschaft nur über Wachstum und Rationalisierung und „um rational wirtschaften zu können, brauche ich eine Verbesserung der Agrarstruktur“.

Ursache und Wirkung

Was ist Ursache, was ist Wirkung des agrarstrukturellen Wandels? Zwingen niedrige Preise für Agrarprodukte den Landwirt zu technischem Fortschritt und Mehrproduktion, gemäß der Annahme, bei hohen Agrarpreisen müsste man ja eigentlich weniger produzieren und dann gäbe es auch keine Ãœberschüsse? „Das ist natürlich Unsinn,“ sagt Lißmann, richtig sei der umgekehrte Schluss: „Nicht die niedrigen Preise zwingen zu technischem Fortschritt, sondern der technische Fortschritt ist zuerst da.“ Betriebe, die langfristig existenzfähig bleiben wollten, nutzten diesen technischen Fortschritt bei gleichzeitigem Wachstum und produzieren so mit sinkenden Stückkosten.

Der dadurch ausgelöste Strukturwandel betreffe nicht nur Hessen, er sei in der ganzen EU und in großen Teilen der Welt zu beobachten. Heute konkurrierten Landwirte nicht nur mit ihren unmittelbaren Berufskollegen um die Kaufkraft der Verbraucher, sondern mit Agrarproduzenten in aller Welt und „die liberalisierten Agrarmärkte nehmen keine Rücksicht auf nationale Kosten.“

Boden ist knappster Faktor

Der knappste Faktor in der Landwirtschaft sei unverändert der nicht vermehrbare Boden, zwangsläufig gehe deshalb Wachsen nicht ohne Weichen. So sank die Anzahl der landwirtschaftlichen Betriebe in Hessen von 160 000 im Jahr 1950 auf heute 20 000 Betriebe, darunter 7 000 Haupterwerbsbetriebe. Die damalige Durchschnittsgröße unter 10 Hektar stieg auf heute 100 ha je Haupterwerbsbetrieb, dennoch schätzt Lißmann die Hälfte der Haupterwerbsbetriebe als „auslaufend“ ein.

„Der Flächenverbrauch durch nicht-landwirtschaftliche Inanspruchnahme verschärft den Existenzkampf in der Landwirtschaft zusätzlich,“ sagt Lißmann. Die Agrarflächen werden nämlich von Jahr zu Jahr weniger: Seit 1950 verlor die Landwirtschaft in Hessen 200 000 ha Nutzfläche, „das wären 2 000 Betriebe mit 100 ha“. Siedlungs- und Verkehrsflächen beanspruchten 80 000 ha Äcker und Wiesen, und „die derzeitigen Rahmenbedingungen und gesetzlichen Vorgaben können die landwirtschaftlichen Flächen nicht schützen“, sagt der Leiter des Dezernats Landwirtschaft im RP Kassel, das die Landwirtschaft auch als Träger öffentlicher Belange (TÖB) vertritt.

„Wir versuchen, die Landwirtschaft zu verteidigen – aber glauben Sie mir, wir stehen auf verlorenem Posten.“ Siedlung und Verkehr fresse sich gerade in das Ackerland, Autobahnen führten häufig durch fruchtbare Senken. Auch der Wald in Hessen wuchs in den letzten sechs Jahrzehnten um 100 000 ha, die Waldflächen hätten mit freiwilliger Aufforstung in den 60er und 70er Jahren zugenommen. Und der Wald habe beim Ausbau der Infrastruktur eine starke Lobby: „Der Wald wird nicht weniger – wenn 20 ha Wald fallen, werden sie anderswo wieder aufgeforstet.“

Nur Betriebe ab 100 ha wachsen

Für die Beurteilung der Agrarstruktur ist die Betriebsgröße ausschlaggebend. Heute werden in Hessen 40 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche (LF) in der Größenklasse über 100 ha bewirtschaftet, das sind etwa 2 000 Betriebe. Diese oberste Gruppe verzeichnet als Einzige zurzeit ein Wachstum, während etwa die Mitte der 80er Jahre noch wachsende Größenklasse 30 bis 50 ha heute rückläufig ist. Die Schlüsselgröße für das Unternehmenswachstum sei der Pachtmarkt. Trotz betrieblichen Wachstums hätten sich die Eigentums­flächen in den vergangenen 15 Jah­ren kaum verändert, 1996 lag der Anteil Eigentum an der Betriebsfläche der hessischen Haupterwerbsbetriebe etwas unter 20 ha, heute etwas darüber. „Ãœber das Eigentum ist kein Landwirt gewachsen,“ sagt Lißmann, sondern im Wesentlichen über die Pachtfläche – sie lag 1996 bei 40 ha, heute sind es über 80 ha. Verglichen mit anderen Bundesländern zählen die hessischen Pachtpreise nicht zu den höchsten: In NRW und Niedersachsen werden über 400 Euro/ha gezahlt, in Hessen durchschnittlich 250 Euro/ha.

Freiwilliger Landtausch

Eine Chance zur besseren Wettbewerbsfähigkeit liege in einem größeren Zuschnitt der Flächen. Hessische Landwirte müssten „alle Möglichkeiten zur Vergrößerung der Bewirtschaftungseinheiten nutzen“, dazu gehörten freiwilliger Landtausch, Flurbereinigung, Pachtflächentausch: „Jede Investition und staatliche Förderung in größere und arrondierte Bewirtschaftungseinheiten ist gut angelegtes Geld.“ So bewirke die Erhöhung der durchschnittlichen Schlaggröße von drei Hektar auf sechs ha einen um 100 bis 250 Euro höheren Gewinn pro ha.

Umgerechnet auf die gesamte hessische Ackerfläche von 500 000 ha ergibt das ein Mehreinkommen für die hessische Landwirtschaft von 50 Mio. Euro pro Jahr. Und das allein durch eine bessere Bewirtschaftungsgröße der Flächen mit sinkenden Kosten für Arbeitszeit, Maschinen und Aufwand der Bestandsführung, auch Randflächenverluste verringerten sich bei größeren Schlägen.

Welche Entwicklung bei Milch?

Wie entwickelte sich die Milchproduktion in den vergangenen Jahrzehnten und was ist in den kommenden 20 Jahren zu erwarten? Der Kuhbestand in Hessen sank von 370 000 Kühen im Jahr 1970 auf heute nur noch 140 000. Von diesen stehen 22 Prozent in Beständen über 100 Kühe und 8 Prozent in Herden über 150 Kühe. „Das ist nicht besonders gut und nicht besonders schlecht,“ findet Günther Lißmann, „aber in den nächsten zehn Jahren wird sich gewaltig etwas ändern“. So rechne man für das Jahr 2020 mit einer durchschnittlichen Bestandsgröße von 150 Kühen und für Hessen insgesamt mit nur noch 1 000 Milchviehbetrieben. 150 Kühe gilt aktuell als die Zielgröße für entwicklungsfähige, spezialisierte Milchviehbetriebe (wenn nur Milchvieh gehalten wird). Diese Zielgröße hebt der Agrarexperte vom RP Kassel schon für das Jahr 2020 auf 225 Milchkühe an, und im Jahr 2030 liegt die Zielgröße für den Milchviehbetrieb in Hessen bereits bei 330 Kühen. (Zum Vergleich: 1960 war der Durchschnittsbestand 20 Kühe).

Auch für die Entwicklung der Schweinemast gibt es agrarstrukturelle Zielgrößen: Heute liegt sie (für spezialisierte Betriebe) bei 1 500 Mastplätzen, für das Jahr 2020 beträgt die Zielgröße 2 300 Plätze und sie steigt bis zum Jahr 2030 weiter auf 3 400 Plätze. (Auch hier der Vergleich zu 1960, damals waren es im hessischen Durchschnitt 24  Mastplätze).

Beim Ackerbau steigt die Zielgröße für „in die Zukunft gerichtete Haupterwerbsbetriebe“ von 250 Hektar heute auf 340 ha im Jahr 2020 und schließlich auf 500 Hektar im Jahr 2030. (Wieder der Vergleich zu 1960: Damals waren es durchschnittlich 30 ha). Das betriebliche Wachstum auf der einen Seite führt in den kommenden Jahren zwangsläufig zu einer geringeren Anzahl von Landwirtschaftsbetrieben in Hessen. Laut Prognose werden es bis zum Jahr 2030 noch 400 Milchviehbetriebe, 180 Schweinemäster, 180 Sauenhalter und 540 Ackerbaubetriebe als „in die Zukunft gerichtete Haupterwerbsbetriebe“ sein. Schlag