Bäuerinnen im Hinterland

Regionalgeschichtlicher Vortrag bei Landsenioren Biedenkopf

Zu einem Vortrag von Dr. Kerstin Werner aus Wiesbaden zum Thema „Das Leben der Bäuerin im hessischen Hinterland vor hundert Jahren“ freute sich, deren Vorsitzender Dr. Konrad Schulz mehr als sechzig Landsenioren aus dem Altkreis Biedenkopf in Gladenbach zu begrüßen.

Ab 1920 gab es besonders in den Realerbteilungsregionen immer mehr Frauen, die sich auch um die Feldarbeit kümmerten, damit in eine Domäne des Bauern ein­brachen und erfolgreich zum Familieneinkommen beitrugen.

Foto: Gerhard Müller

Auch Gertrud Köhler, Präsidentin des Landseniorenverban­des Hessen war gekommen. Sie berichtete über die Entwicklung der Landseniorenbewegung seit etwa 25 Jahren, die auf die Gründung von Dr. Kurt Noell zurückgeht. Dieser hatte schon im Jahr 1957 mitentscheidend die Gründung der landwirtschaftlichen Altersklasse ins Leben gerufen, die den Hof übergebenden Land­­wirten eine materielle Unabhängigkeit sichert und damit das Übergeben des Hofes an den Nachfolger erleichtert.

Viele Männer wanderten ab

Die Gastreferentin, Dr. Kerstin Werner, ist gebürtig aus Hommertshausen, wo ihr Bruder, Landwirtschaftsmeister Kurt Werner, den elterlichen Betrieb mit dem Schwerpunkt Milchproduktion fortführt. Die Gymnasiallehrerin berichtete über Leben und Arbeit der Kleinbäuerinnen im hessischen Hinterland vor rund 100 Jahren und den geschichtlichen Zusammenhang aufgrund der starken wirtschaftlichen Veränderungen, welche sich im Zuge der Industrialisierung deutlich auf die Landbevölkerung auswirkten.

So führte die Abwanderung vieler Männer aus der Landwirtschaft in die Industrie bei gleichzeitig starker Technisierung der Landarbeit dazu, dass viele landwirtschaftlichen Betriebe nun von den Frauen auf dem Lande weitergeführt wurden.

So standen um 1900 auch das Leben und die Arbeit der Kleinbäuerinnen im hessischen Hinterland mit der Landwirtschaft in der Region um Biedenkopf in einem engen Zu­sammenhang. Folgen des Strukturwandels waren eine erhebliche Bodenmobilität mit der Verbäuerlichung der ehemals landlosen oder land­armen Dörfer und außer der Abwanderung vieler Männer aus der Landwirtschaft in die Industrie auch die Einbindung der Landwirtschaft in den überregionalen Markt.

Folge der Realerbteilung

Die Verbäuerlichung hatte daher als Ursache, dass im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts immer mehr Familien wegen der Realerbteilung im Hinterland Ackerflächen und Wiesen besaßen und sich eine oder zwei Kühe hielten. Damit besaßen sie ebenso Spannvieh und konnten selbstständig ihren Grund und Boden bearbeiten.

Vor welchem Hintergrund und mit welchen Motiven bewirtschafteten aber die Dorfbewohner im hessischen Hinterland auch kleinste Flächen und müh­ten sich mit dem Kuhgespann ab? Frauen und Männer, die sich für diese Lebens- und Arbeitsweise entschieden, sahen darin für sich die Möglichkeit, möglichst abgesichert eine Familie zu ernähren. Die Ehemänner arbeiteten als Fernpendler in den Industriestandorten des Siegerlan­des, wanderten damit aus der Landwirtschaft ab.

Selbstständige Kleinbäuerin

Ihre Arbeitsmigration erbrach­te den Geldbetrag, den die Familie für die Vermögensbildung, die Schuldentilgung oder größere Anschaffungen benötigte. Unter anderem kaufte die kleinbäuerliche Familie mit diesem Geld die kostspieligen Gerätschaften für die Bearbeitung der Felder, wie Pflug, Egge und Leiterwagen. Verbäuerlichung im hessischen Hinterland heißt folglich, dass der Ehemann Arbeiter, sei es Bauhandwerker oder Fabrikarbeiter, war, die Ehefrau aber die Bäuerin.

Die Arbeit eines Ehepaares ergänzte sich auf diese Weise gut. Frauen waren selbstständige Kleinbäuerin, ihnen oblag die Leitung des Betriebes. Denn es gab im Hinterland viele Frauen, die die Aussaat ausbrachten, damit in eine Domäne des Bauern einbrachen. Dies war vor allem in Realteilungsgebieten, wie im sogenannten „Breidenbacher Grund“ der Fall. Die selbstständige Landwirtschaft der Ehefrau wurde zur Basis der Unterhaltssicherung, denn mit dem Ertrag ihrer Arbeit ernährte sie die Familie. Da um 1900 ein Arbeiterhaushalt etwa sechzig Prozent seines Haushaltsbudgets für Lebensmittel ausgeben musste, zeigt sich, wie viel diese Hinterländerinnen leisteten. Sie waren „Ernährerin der Familie“.

Der Vorsitzende wies im Anschluss auf die nächsten Aktivitäten der Vereini­gung hin, dazu gehört ein Ausflug im Juni zum Schloss der Fürsten zu Witt­genstein in Berleburg und die Besichtigung der Ruine Gins­burg bei Hilchenbach, die ehedem dem Grafen von Nassau ge­hörte.

Dr. Konrad Schulz, ls/b