Energieleitungsbau sachgerecht entschädigen
Rechtsvorgaben, Schadensermittlung und Durchsetzung erörtert
Bei der Landwirtschaftlichen Woche Nordhessen 2012 in Baunatal eröffnete Dr. Volker Wolfram vor rund 130 Fachleuten die Informationsveranstaltung des Hauptverbandes der landwirtschaftlichen Buchstellen und SachverstänÂdigen (HLBS) zum aktuellen Thema der „Interessenwahrung beim Bau von ober- und unterirdischen Energieversorgungsanlagen.“
Der HLBS ist ein Berufs- und Fachverband von steuer- und wirtÂschaftsberatenden Berufen sowie Sachverständigen in der Agrarwirtschaft. In den einführenden Worten wies Dr. Wolfram darauf hin, dass die beschlossene Energiewende neue Strom- und Gasleitungen erfordere und die Eigentumsrechte der Betroffenen beim Ausbau gewahrt werden müssen. Insbesondere die Verlegung der unterirdischen Versorgungsleitungen können schwere Ackerfolgeschäden verursachen, die umfassend zu entschädigen seien.Rechtspositionen der Betroffenen
Rechtsanwalt Ulrich Böcker aus Potsdam erläuterte eingangs die Entwicklung der Energieversorgung in Deutschland. Früher war die Energieproduktion und Energieverteilung weitestgehend in der Hand von Oligopolen mit abgeschotteten Märkten. Die Energiewende, ausgelöst durch die Diskussion um den Klimawandel und nochmals beschleunigt durch die Katastrophe von Fukushima verändert zunehmend die alte Energieversorgungsstruktur.
Trennung von Stromproduktion und Netzbetrieb, Liberalisierung der Märkte, grenzüberschreitender StromÂhandel, das Ende der Kernenergietechnologie in Deutschland und das Ziel einer dezentralen Energiegewinnung, schaffen neue VersorgungsÂstrukturen. Die leitungsgebundene Energieversorgung, allen voran Strom und Gas aber auch Öl und Wärme, werden zunehmend in eine deutsche und EU-weite Netzstruktur zu integrieren sein.
Um die erforderliche Versorgungssicherheit durch ausÂreichenÂde Netzkapazität und –stabilität zu erreichen, sind zuÂkünftig große Anstrengungen im Netzausbau erforderlich. Die Netze laufen zurzeit am Anschlag, so Rechtsanwalt Böcker. Der Ausbaubedarf für Deutschland liegt zum Beispiel für das 380 kV-Höchstspannungsnetz bis zum Jahre 2020 bei 3 600 km, die fast vollständig als FreileitunÂgen verlegt werden.
Der Ausbauplan für das Hochspannungsnetz 60 kV bis 220 kV ist noch ambitionierter und wird zunehmend auch als Erdkabel verlegt. Das Mittel- und Niederspannungsnetz umfasst in Deutschland rund 1,7 Mio. km, ist in der Hauptsache als Erdkabel verlegt und unterliegt ebenfalls der permanenten Erneuerung und dem Ausbau. Böcker prognostiziert Leitungskorridore, vor allem in Nord-Süd-Richtung mit flächenhafter Wirkung und bis zu 1 000 m Breite.
Als rechtliche Begleitung zur Beschleunigung und Zentralisierung der Verfahren dienen unter anderem EnerÂgiewirtschaftsÂgeÂsetz, Energieleitungsbaugesetz, Netzausbaubeschleunigungsgesetz, BundesÂbedarfsÂplaÂnungsÂgesetz.
Folge ist eine verstärkte InÂanÂspruchnahme privaten Grundbesitzes bei verkürzten Rechtsschutzmöglichkeiten. Zu den Verhandlungsansätzen wies Böcker darauf hin, dass gut ausgehandelte Rahmenverträge zwar gut sind, anzustreben seien aber individuelle VereinbarunÂgen, zum Beispiel auch mit RückÂbauverpflichtungen.
Dr. Volker Wolfram geht in seinem Beitrag zur „Sachgerechten Entschädigung – Ermittlung und Durchsetzung von Leitungsbauschäden“ zunächst auf die Stellung des „Öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen“ (öbv SV) in einem solchen Verfahren ein. Dabei weist er eindringlich darauf hin, dass der öbv SV der mit der Kalkulation von Entschädigung und Schadensersatz beauftragt ist, entsprechend der Bestellungsverordnung den Schaden unabhängig, weisungsfrei sowie für alle beteiligten Parteien neutral und objektiv zu berechnen habe. Sollte der Sachverständige im Schadensermittlungsverfahren eine andere Rolle einnehmen, wie zum Beispiel Berater des LandÂwirts oder Berater des Energieversorgungsunternehmens, dann kann im gleichen Verfahren nicht der Auftrag zur unparteiiÂschen Schadensermittlung wahrgenommen werden. Bei der Berechnung der Entschädigung sind grundsätzlich folgende Beschränkungen und Minderungen sachgerecht zu kalkulieren:
- Dienstbarkeit,
- Maststandorte/Schilderpfähle,
- Flurschäden und Wirtschaftserschwernisse während der Bauarbeiten,
- Ackerfolgeschäden nach Abschluss der Bauarbeiten sowie
- persönliche Aufwendungen und die Zeit für Verhandlungen, Beratungen und weitere Punkte.
Dienstbarkeitsentschädigung
Die Dienstbarkeitsentschädigung, so Dr. Wolfram, soll die VerÂkehrswertminderung der Fläche ausgleichen und beträgt etwa 20 Prozent des Verkehrswertes. Bei großen unterirdischen Versorgungsleitungen können bis zu 100 Prozent des Verkehrswertes gezahlt werden. Die Minderung entsteht, weil das Flurstück nunmehr mit einer Leitung belastet ist. Die Verkehrswertminderung wird für einen Schutzstreifen links und rechts der Leitung angesetzt. Wichtig ist dass bei unterirdischen Leitungen dieser Schutzstreifen zumindest so groß ist, dass die Bauarbeiten, einschließlich Deponieren der Erde sowie dem anschließenden Verfüllen darauf erfolgen kann. Ferner muss dieser Schutzstreifen auch für spätere Reparaturarbeiten ausreichend bemessen sein. Bei oberirdischen LeitunÂgen werden beispielsweise im Hochspannungsbereich Schutzstreifen bis zu 72 m benötigt.
Details zu Mastenstandorte
Beim Aufstellen von Masten kommt es laut Dr. Wolfram zu folgenden Schadenskomponenten: Verlust an einer Ertrag bringenden Fläche, Fläche mit Ertragseinbuße, Mehraufwand an Arbeitszeit, Mehraufwand an Maschinenzeit und Kosten für die Unkrautbekämpfung auf der nicht bestellten Fläche. Anhand der jährlich anfallenden Arbeitsgänge ist der Mehraufwand und Ertragsausfall zu errechnen und in der Regel auf Dauer als Ewigkeitsschaden zu kapitalisieren.Flurschäden und Folgeschäden
Die Aufwuchsschäden während der Bauzeit können, in Anlehnung an die von Dr. Lißmann, RP Kassel herausgegebenen Richtwerte, zu 100 Prozent ersetzt werden. Schwieriger gestaltet sich die Erfassung von Ackerfolgeschäden, da durch die EinÂgriffe in das Erdreich oft dauerhafte Schäden an der Erdkrume und an der Zusammensetzung der Erdschichten erfolgen. Wesentlichen Einfluss auf den Schadensumfang hat die mehr oder weniger fachgerechte Ausführung der Baumaßnahme, die Bodenverhältnisse, die Witterung beim Leitungsbau, die Sorgfalt bei der Rekultivierung sowie die Bewirtschaftung im ersten Jahr nach der Leitungsverlegung. Faktisch richtig wäre eine jährliche Abschätzung.
Ausgleich in der Praxis
Aus Praktikabilitätsgründen wird in der Regel eine Pauschalierung vereinbart. Dabei hat sich die Annahme des 1,0 bis 1,5 fachen Rohertrags für die ersten drei bis fünf, teilweise bis zehn Jahre als Ausgleich in der Praxis durchgesetzt. Nach dieser Zeit sollen sich die Betroffenen melden, um verbleibende Schäden zu taxieren, sagte Dr. Wolfram.
In der anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass die bestehenden Rahmenvereinbarungen und gesetzlichen Vorgaben heute nicht ausreichen, für eine angemessene Entschädigung der vom Leitungsbau betroffenen Eigentümer und Bewirtschafter. Dr. Wolfram weist darauf hin, dass Betroffene solcher Baumaßnahmen, wegen der Komplexität der sich daraus ergebenden Schadenspositionen, sich sachkundig beraten lassen sollten. Hilfe bietet hier in größeren Fällen ein sachkundiger Rechtsanwalt. Ansonsten sollte in jedem Fall ein mit der Schadensregulierung im Leitungsbau kundiger öbv Sachverständiger schon im Vorfeld beratend mit hinzu gezogen werden. Dies hat sich auch beim Bau der Leitung bewährt, da während der BauÂmaßÂnahme schadensmindernd durch den Sachverständigen eingegriffen werden kann (Liste der hessischen öbv Sachverständigen unter www.rp-kassel.de Stichwortsuche: Sachverständigenliste).
Das Eigentum nicht „aushöhlen“
Die Unzufriedenheit der LandÂwirtschaft mit der bisheriÂgen Entschädigungsregulierung formulierte Dr. Hans Herrmann Harpain vom Hessischen Bauernverband so: „In der Rechtsprechung haben sich EntÂschäÂdiÂÂgunÂgen von 10 bis 20 Prozent des Verkehrswertes für die Eintragung von Grunddienstbarkeiten seit Jahrzehnten verfesÂtigt. Auch neuere EntÂÂÂscheiÂdungen, beispielsweise zur Entschädigung von TelekommuniÂkationsÂleitunÂgen, zeigten eine weitere schleichende Aushöhlung des Eigentums. Vollständig inakzeptabel seien Regelungen im Netzausbaubeschleunigungsgesetz zur Möglichkeit der Enteignung bereits während der Planfeststellung und zu Pauschalzahlungen an die von Leitungstrassen betroffenen Kommunen. Diese Zahlungen überÂÂÂsteigen die Entschädigungen für GrundÂdienstbarkeiÂten um ein VielfaÂches.
Angesichts der fortgeschrittenen Privatisierung der Energieversorgung seien Entschädigungsvorgaben, die auf DulÂÂÂdungspflichten für eine öffentliche Daseinsvorsorge basieren, nicht mehr zeitgemäß. Es sei zwingend erforderlich, hier am wirtschaftlichen Nutzen der Versorgungsleitungen anzuknüpfen und für Grundeigentümer und Landwirtschaft eine faire Teilhabe zu ermöglichen.“
Dr. Günther Lißmann