Energiewende erfordert neue Gas- und Stromtrassen

Gewaltiger Netzausbau unter, auf und über Agrarflächen

Zu einem Spezialseminar über den Energieleitungsbau trafen sich rund 100 Agrarsachverständige sowie Vertreter von Strom- und Gasnetzbetreibern und erörterten Durchführungs- und Entschädigungsfragen. Der Hauptverband der landwirtschaftlichen Buchstellen und Sachverständigen (HLBS) hatte zu diesem Thema nach Kassel eingeladen. Die Veranstaltung wurde von Dr. Volker Wolfram, öbv Sachverständiger aus Guxhagen, selbst seit vielen Jahren Experte in Fragen der Leitungsbauentschädigung, moderiert.

Je nach Gasleitungsquerschnitt können beanspruchte Trassen bis zu 36 m breit sein.

Foto: Günther Lißmann

In seinen einleitenden Worten betonte Dr. Wolfram, dass der Strom- und Gasleitungsbau nicht nur während der Bauphase Schäden verursacht, sondern in der Regel auch danach dauerhafte entschädigungspflichtige Beeinträchtigungen für den Landnutzer verbleiben. Beim Energienetzausbau ist von kleinen bis zu großen Projekten einiges gesetzlich geregelt, vieles ist aber auch frei vereinbar. Für einvernehmliche Vertragsvereinbarungen zwischen den betroffenen Landbesitzern/Pächtern und den Netzausbaugesellschaften sowie für eine komplette Baubegleitung, ist es ratsam geeignete öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige (öbv SV) einzubinden.

Stromnetze und Betreiber

Einen Ãœberblick über die Strom­netzstruktur und den geplanten Ausbau gab Dr. Christoph Gehlen, Amperion GmbH, Dortmund. In Deutschland gibt es vier unabhängige Stromnetzbetreiber: Amperion (ehemals RWE, VEW), EnBW Transportnetze AG (früher Badenwerk und EV-Schwaben), TenneT TSO GmbH (früher E.ON) und 50 Hertz Transmission (neue Bun­desländer). Ziel war es, so Dr. Gehlen, von der Stromerzeugung unabhängige Netzbetreiber zu installieren, um den Wettbewerb am Strommarkt zu erhöhen. Das deutsche Stromnetz ist rund 1,78 Millionen Kilo­meter lang und besteht aus mehreren Ebenen: Niederspannungsnetz auf Ortsebene, Mittelspannungsnetz (1 kV bis 50 kV Stadtnetz), Hochspannungsnetz (110 kV, Ãœberlandleitungen von circa 76 000 km), Höchstspannungsnetz (220 kV bis 380 kV, Ãœberlandleitungen von circa 36 000 km). Die Netze transportieren den Strom von den Kraftwerken zu den Verbrauchern. Das Problem ist, dass Strom immer genau dann erzeugt werden muss, wenn er benötigt wird. Eine Vorratshaltung mittels Strom­speicherung ist nicht möglich. Um die klimapolitischen Ziele der Bundesregierung zu erreichen, ist die Stromerzeugung aus Erneuerbarer Energien (EE), von heute 20 Prozent bis zum Jahre 2050 auf 80 Prozent aus EE, umzustellen. Leider stehen Wind und Sonne nicht immer zur Verfügung, wenn der Strom gerade gebraucht wird. Nur leistungsfähige Netze können in solchen Mangelsituatio­nen Versorgungssicherheit in Deutschland gewährleisten. Sie sollen in Zeiten geringer EE-Ein­speisung durch Verbindung der Lastschwerpunkte mit schnell verfügbaren konventionellen Kraftwerken die Stromversorgung sichern. Leistungsfähige Netze haben hier eine Schlüs­selfunktion. Sie müssen den Strom der vielen Windräder, Tausenden Solaranlagen, schnell verfügbaren Pumpspeicherkraftwerke, aber auch der neu zu errichtenden konventionellen Kraftwerke jederzeit wahlweise zu den Zentren des Energieverbrauchs bringen.

Hinzu kommt, dass der europäische Strombinnenmarkt Realität werden kann. Dabei würde Deutschland zum größten Stromtransitland, mit weiteren Anforderungen an das Stromnetz. Allein für das Höchstspannungsnetz sind in Deutschland bis zum Jahre 2020 rund 3 600 km neue Stromtrassen geplant. Der Planungsprozess für ein rechtssicheres Großverfahren dauert oft drei Jahre bis zum ersten Spatenstich. Raumordnungs­verfahren, Planfeststellung mit Kompensationsplanung, öffentliche Auslegung und Erörterungstermine sowie privatrechtli­che Verhandlungen mit den Grund­stückseigentümern nehmen erhebliche Zeit in Anspruch. Die neu geschaffene Bundesnetzagentur und neue Gesetze wie Ener­gieleitungsausbaugesetz (EnLAG), Energiewirtschaftsgesetz (EnWG), Netzausbaubeschleunigungsgesetz (NABEG) sollen Planungszeiten zukünftig verkürzen. 110 kV Hochspannungsleitungen sollen nach § 44 EnWG zukünftig unterirdisch geführt werden, wenn sie absehbar höchstens 2,75 Mal so teuer werden wie die überirdische Variante.

Dr. Volker Wolfram, HLBS-Landesverband Hessen.

Foto: Günther Lißmann

 

Dr. Christoph Gehlen, Amperion GmbH.

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Nico Wolbring, öbv Sachverständiger aus Borken in Nordrhein-Westfalen.

Foto: Günther Lißmann

Höchstspannungsnetze werden heute noch fast ausschließlich als Überlandleitungen verlegt. Nur kleine Teile sind als Erd­kabel verlegt, diese Technik ist sehr aufwendig und es gibt kaum Praxiserfahrungen. In Pilotprojekten werden zurzeit Erfahrungen zur Wärmeausbreitung sowie zu pflanzenbaulichen und ökologischen Konsequenzen erforscht. Die Kosten für die Erdverkabelung liegen bei den Höchstspannungsnetzen um das Vier- bis Zehnfache höher als bei Freileitungen.

Gasnetze beanspruchen Boden

Dr. Urs Pedrazza von GASCADE (früher WINGAS Transport GmbH) stellte die Vorgehensweise beim Gasleitungsbau dar. Raumordnungs- und Planfeststellungsverfahren sind vergleichbar mit den Stromleitungsprojekten. Gasleitungen kommen immer in die Erde und beanspruchen damit den Boden noch mehr als Stromfreileitungsnetze. Je nach Gasleitungsquerschnitt können die beanspruchten Trassen bis zu 36 m breit sein. Mit einer Länge von 470 km und einer Kapazität von 36 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr ist die Ostsee-Pipeline-Anbindungs-Leitung (OPAL) die größte Erdgasleitung Westeuropas. Diese Leitung hat einen Rohrdurchmesser von 1,4 m und benötigt zum Beispiel eine Trassenbreite von 36 m. Sie übernimmt Erdgas aus der durch die Ostsee führenden Erdgasleitung Nord Stream und transportiert es zu den Kunden in Deutschland sowie den europäischen Nachbarländern. Damit leistet die OPAL einen wesentlichen Beitrag zur Sicherung der Energieversorgung Europas. Die OPAL verläuft vom Anlandungspunkt der Nord Stream an der Ostseeküste bei Greifswald durch Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen bis in die Tschechische Republik. „Ziel unserer Bemühungen ist es, den Boden als wichtigstes Produktionsmittel der Landwirte möglichst schonend zu behandeln“, so Dr. Pedrazza. Dafür sind in seinem Unternehmen bestimmte grundsätzliche Vorgehensweisen vorgeschrieben. Zunächst ist die Trassenplanung mit Rücksicht auf Mensch, Natur und Landschaft durchzuführen. Der fruchtbare Mutterboden wird vor dem Bau im Bereich des Arbeitsstreifens abgetragen und konsequent separat gelagert. Erst wenn der Oberboden komplett abgetragen ist, folgt der Rohrgrabenaushub.

Durch die getrennte Lagerung von Ober- und Unterboden kann eine Vermischung effektiv vermieden werden. Damit der Boden nicht unnötig verdichtet wird, fahren unsere Baumaschinen in der Regel mit Kettenlaufwerken. Sollte wegen Nässe infolge starker Niederschläge der Boden nicht befahrbar sein, werden die Arbeiten vorübergehend eingestellt. Nach Absenkung der Erdgasleitung in den Rohrgraben erfolgt die Verfüllung mit dem zuvor ausgehobenen Bodenmaterial. Nach der fakultativen Tiefenlockerung im Unterboden wird der fruchtbare Oberboden aufgebracht. Ackerstandorte werden als kultivierte Ackerflächen wiederhergestellt und Grünlandstandorte neu angesät. Diese Schritte erfolgen in enger Absprache mit den Landwirten. Abschließend erfolgt mit allen Betroffenen eine gewissenhafte Qualitätskontrolle. Der Mutterboden ist separat gelagert und die Trasse für die Verlegung der Gasleitung vorbereitet.

Entschädigungsregelungen

Ãœber „Entschädigungs- und Ausgleichsregelungen für das Leitungsrecht“ sprach Rechtsantwalt Hubertus Schmitte, WLV Münster. Er wies darauf hin, dass es auch nach § 12 der Niederspannungsanschlussverordnung (NAV) unentgeltliche Duldungspflichten für Grundstückseigentümer gibt, die selbst an die Stromversorgung angeschlossen sind. Für das Hoch- und Höchstspannungsnetz, das sind Leitungen über 100 kV, können Entschädigungsansprüche ausgehandelt werden. Zu entschädigen sind Schutzstreifen, Maststandorte, Flur- und Aufwuchsschäden sowie Folgeschäden. Schutzstreifen sind die Trassen von 40 m bis 70 m Breite unterhalb der Leitungsmittelachse. Diese Flächen sind grund­buchlich mit einer beschränkt persönlichen Dienstbarkeit gesichert. Die Entschädi­gung dafür erfolgt nach den Lan­desenteignungsgesetzen, wonach der Verkehrswert des Rechtsverlustes zu entschädigen ist. Die Rechtsprechung geht dabei für Freileitungen von 10 bis 20 Prozent des Bodenverkehrswertes aus. Maststandorte werden individuell auf der Basis von Rahmenvereinbarungen entschädigt. Flur-, Aufwuchs- und Folgeschäden treten während der Bauphase auf und sind individuell gutachtlich zu ermitteln. Folgeschäden können für die ersten vier Jahre pauschal mit 50, 30, 20, und 10 Prozent angenommen werden. Falls darüber hinaus noch Folgeschäden bestehen, sind diese ab dem fünften Jahr neu zu taxieren. Zeitaufwandspauschalen sind gegenwärtig nicht üblich, wären aber für Landeigentümer und Pächter dringend notwendig, da die Absprachen und Vertragsvereinbarungen erhebliche Zeit in Anspruch nehmen.

Bei Gasleitungen besteht im örtlichen Verteilnetz nach § 12 Niederdruckanschlussverordnung (NDAV) wie bei Stromleitungen, eine unentgeltliche Duldungspflicht. Im überörtlichen Verteilnetz mit Leitungen über 300 mm Durchmesser besteht Entschädigungspflicht. Rechtlich ist die Gasleitungsentschädigung für Dienstbarkeiten sowie Flur-, Aufwuchs- und Fol­geschäden vergleichbar der Stromleitungsentschädigung.

Rahmenvereinbarungen treffen

Vielfältige Veränderungen in der Landwirtschaft und der anstehende umfangreiche Leitungsbau haben in NRW zu einer Aktualisierung der bisherigen Rahmenvereinbarungen für pauschale Entschädigungen von Höchstspannungsmaststandorten geführt. Nico Wolbring und Dr. Heinz Peter Jennissen, beide öbv Sachverständige aus Borken, sind die Autoren dieser Studie und referierten über die neuen Ergebnisse.

Dr. Urs Pedrazza, Wingas Transport GmbH.

Foto: Günther Lißmann

 

RA Hubertus Schmitte, Westfälisch-Lip­pischer Landschaftsverband in Münster.

Foto: Günther Lißmann

Grundsätzlich sind drei Schadenspositionen bei der Berechnung zu berücksichtigen: Ausfallfläche (Maststandfläche plus 2 m Sicherheitsabstand rund um den Mast), ertragsgeminderte Fläche(erweiterte Fläche um den Mast) und Umfahrungsaufwand. Bei der Auswertung vieler Luftbilder konnten zwei unterschiedliche Schadensvarianten beobachtet werden. Bei der Variante 1 wird bis auf einen Sicherheitsabstand nah an den Mast herangearbeitet. Die Ausfallfläche be­schränkt sich in diesem Fall auf die Mastaufstandsfläche plus Sicherheitsabstand.

Durch die Fahr- und Wendemanöver zur Umfahrung des Mastes ergibt sich dabei zusätzlich eine relativ kleine ertragsgeminderte Fläche um den Mast. In der Variante 2 verzichten die Bewirtschafter bewusst auf eine größere Fläche um den Mast, die zumeist begrünt wird. Dadurch vergrößert sich die ertragsgemin­derte Fläche, der Umfahrungsaufwand wird hingegen erheblich vermindert.

Als Ergebnis der Untersuchun­gen und Berechnungen wurde festgestellt, dass unabhängig von der Schadensvariante der Entschädigungsbetrag für einen Maststandort in enger Korrelation zur Mastkantenlänge steht. Davon ausgehend, wurden für die Rahmenvereinbarungen praktikable Tabellen erstellt. Die jeweiligen Entschädigungsbeträge können darin in Abhängigkeit der Mastkantenlänge und dem am Standort im Durchschnitt der Fruchtfolge erzielten Rohertrag, abgelesen werden.

Der Energienetzausbau bedeutet gleichzeitig auch Kampf um den Erhalt und die Funktions­fähigkeit der landwirtschaftli­chen Nutzfläche. Gegen die großen Vorhabensträger kann der einzelne Landbesitzer oder Pächter nur wenig ausrichten. Rahmenverträge sind generell eine gute Hilfe. Aber auch in der Pla­nungs- und Bauphase sowie bei Rekultivierung, Bauendabnahme und späteren Reparaturmaßnahmen an der Leitung wä­re eine Baubegleitung durch neu­­trale Sachverständige wünschenswert.

Besonders der Boden braucht eine fachkundige Vertretung. Gut ausgebildete neutrale Agrarsachverständige könnten bei Planungs-, Bau- und Entschädigungsfragen vermitteln und Ärger sowie Bauverzögerungen minimieren. Dr. Wolfram stellte dazu die Aufgaben des Sachverständigen heraus, dabei betonte er: „Ein öbv Sachverständiger stellt Entschädigungen fest, er handelt keine Entschädigungen aus“. Der Status eines Sachverständigen ist zu Beginn seiner Tätigkeit klar zu definieren, ob er Berater des Landwirts, Berater des Energieversorgungsunternehmens oder unabhängiger öbv Sachverständiger entsprechend der Bestellungsverordnung ist.

Dr. Lißmann