Familie meistert Alltag mit behindertem Kind

„Wir sind eine gesunde Familie, auch wenn Felix krank ist“

Ein gesundes Kind zur Welt zu bringen, ist etwas ganz Besonderes. Schaut man mal über den eigenen Tellerrand, dann sieht man im täglichen Leben durchaus Familien, die mit einem behinderten Kind leben. So wie Familie Thiemann, die ihren Alltag glücklich und zufrieden mit ihrem behinderten Sohn Felix meistert. LW-Autorin Karin Vorländer hat die Familie besucht und stellt sie im Folgenden vor.

Felix ist ein geduldiges Kind, von dem die anderen Familienmitglieder – gerade aufgrund seiner Behinderung – viel lernen können.

Foto: Karin Vorländer

Familie meistert Alltag mit behindertem Kind „Wir sind eine gesunde Familie, auch wenn Felix krank ist“ Dass sie einmal eine so herausfordernd besondere Familie haben würden, damit haben Andrea (48) und Claus Thiemann (49) nie gerechnet. Denn über viele Jahre waren sie ungewollt kinderlos. Doch dann kündigte sich zur Freude der beiden Nick an. Als Andrea dann nach einem guten Jahr mit fast 40 noch einmal schwanger war, diesmal sogar mit Zwillingen, schien das unverhoffte Glück perfekt, auch wenn sie als Risikoschwangere galt. Weil die Vorsorgeuntersuchun­gen keinerlei Anlass zur Sorge gaben, sah das Ehepaar der Geburt des Zwillingspärchens mit gespannter Freude entgegen. Genau am zweiten Geburtstag von Nick kamen dann Anna und Felix zur Welt. Sechs Wochen zu früh, aber ohne den vom Arzt angebotenen Kaiserschnitt. Doch dann zeigte sich, dass Felix während der Geburt, aus bis heute ungeklärter Ursache, eine schwere Hirnblutung erlitten hatte. Das ist jetzt acht Jahre her.

Felix gilt als blind, er spricht nur wenige Worte, wird wohl niemals richtig gehen oder stehen können, er neigt zu Krampfanfällen und wird auch aufgrund seiner geistigen Behinderung stets auf Hilfe angewiesen sein. Andrea Thiemann kann dennoch seine Stärken benennen: „Lachen und kuscheln kann er besser als unsere anderen Kinder. Felix ist ein sehr geduldiger Mensch. Von ihm kann ich Langsamkeit lernen.“

Kein Hadern mit dem Schicksal

Der Frage danach, wer „Schuld“ hat an ihrem und an Felix Schicksal, der Frage, wie sie als Eltern denn angesichts der schweren Behinderung von Felix weiterhin an Gott glauben können, haben Andrea und Claus Thiemann zum Erstaunen von Freunden und Außenstehenden kaum Raum gegeben. „Als klar wurde, dass Felix mit einer schweren Behinderung würde leben müssen, hat uns das innerlich nicht angegriffen. Wir haben das Gefühl, Gott hat uns gut vorbereitet. Als Christen wissen wir, dass die Welt nicht perfekt ist. Natürlich haben wir uns das nicht gewünscht, aber Gott mutet und traut es uns zu, ein ganz besonderes Kind durch das Leben zu begleiten“, sagen sie.

Statt viel Kraft darauf zu ver(sch)wenden, mit Gott oder dem Schicksal zu hadern und dem Traum einer Familie mit ausschließlich gesunden Kindern nachzutrauern, geht es dem Ehepaar darum, den Alltag mit Felix, Anna und Nick zu bewältigen. „Wir wissen heute gar nicht mehr, wie wir das erste Jahr mit unseren drei kleinen Kindern überhaupt geschafft haben“, meint Andrea Thiemann im Rückblick auf die durchaus chao­tische Anfangszeit, die ausgefüllt war mit dem Stillen und Füttern der Zwillinge, mit einer Kette nicht abreißender Arzt- und Therapietermine und mit der Suche nach Informationen und Hilfsadressen.

Reaktionen der Geschwisterkinder

Dabei erlebten sie, wie überlebenswichtig ein Netzwerk von „Verbündeten“ ist. Da war die Mutter, die für die Familie kochte, oder die Bekannte, die jede Woche einmal mit Nick zum Kinderturnen ging. Denn ältere Geschwister behinderter Kinder haben es doppelt schwer. Schon im Normalfall haben sie das Gefühl, bei der Geburt eines Geschwisterkindes „entthront“ zu werden und um Aufmerksamkeit kämpfen zu müssen. Ist das Geschwisterkind behindert, steht es verständlicherweise noch mehr im Mittelpunkt. Nach dem Motto „Ich bin auch noch da“, forderte Nick unüberhörbar Zuwendung. Die gab es zwar pur beim Urlaub mit den Großeltern – aber im Alltag musste auch Nick lernen, dass seine Eltern viel Zeit und Kraft für Felix brauchen. Die kleine Anna rea­gierte mit großer Kooperationsbereitschaft auf ihren kranken Zwillingsbruder. „Sie hat schon früh gelernt, allein zu spielen“, erinnert sich ihre Mutter.

Zeit zu zweit als Paar

Von Behinderungen sind mehr Mitbürger betroffen, als allgemein vermutet wird: 6,7 Millionen Menschen in Deutschland sind schwerbehindert. Das sind acht Prozent der Bevölkerung – jeder zwölfte Einwohner. Am häufigsten haben Schwerbehinderte eine körperliche Behinderung. Sie können nicht in der gleichen Art und Weise am gesellschaftlichen Leben teilnehmen wie Nichtbehinderte. Um diese Benachteiligung etwas auszugleichen, gibt es für Schwerbehinderte besondere Rechte, wie einen besonderen Kündigungsschutz, Zusatzurlaub oder unter bestimmten Voraussetzungen die unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Nahverkehr. – Über die Hälfte der Schwerbehinderten ist übrigens 65 Jahre oder älter. Meist wurde die Behinderung durch eine Krankheit verursacht.

Foto: Globus

Auch der Herausforderung, als Eltern weiterhin ein Liebespaar zu bleiben, mussten Andrea und Claus Thiemann sich stellen. „Das ist ein Kampf, den man nur gewinnt, wenn man immer einen neuen Anlauf macht“, ist das Fazit der beiden. Sie erfanden den Ehe-Sonntagabend, mit „Restaurant zu Hause“. Bei Lieferpizza und Kerzenschein geht es dann nur um sie selbst.

Heute besucht Felix eine Förderschule für Kinder mit geistiger Behinderung, und viele Therapietermine finden während seiner Schulzeit statt. So bleibt den Eltern – auch mit Unterstützung eines Pflegedienstes – Freiraum für eigene Interessen, wie Treffen mit Freunden oder die ehrenamtliche Mitarbeit in der Kirchengemeinde. Zweimal im Jahr fahren der Vater oder die Mutter abwechselnd mit Felix zu einem zweiwöchigen Rehaaufenthalt. Dieser ermöglicht, neben den Fortschritten für Felix, neue Kontakte zu anderen Betroffenen. Außerdem bedeuten diese Zeiten für die Restfamilie zu Hause eine Atempause vom normalen Alltag.

Auch die dreifache Mutter und Journalistin Ilse Achilles hat erlebt, wie wichtig es ist, die eigene Lebensbatterie immer wieder aufzuladen und sich auf keinen Fall „aufzuopfern“. Aus ihrer Sicht haben Mutter und Vater „geradezu die Pflicht, dafür zu sorgen, dass ihre Freude am Leben nicht auf den Nullpunkt sinkt. Denn nur dann können sie wirklich den Alltag meistern. Eine selbstlose Mutter ist ihr Selbst bald los und nützt niemandem. Es sollte möglich sein – ganz ohne schlechtes Gewissen –, dass die Mutter sich einmal in der Woche mit Freundinnen trifft oder zum Squash geht, der Vater weiter in den Fußballclub oder zum Rudern. Gehetzte, verkrampf­te Eltern sind in dieser schweren Zeit ihren Kindern keine Stütze!“, schreibt sie.

Das kranke Kind loslassen, auch das ist eine Aufgabe, mit der sich viele Eltern von behinderten Kindern schwer tun. Sie haben das Gefühl, eigentlich könne niemand ihr Kind, das sie doch am allerbesten verstehen, so gut versorgen wie sie selbst. Wenn für Felix etwa eine mehrtägige Klassenfahrt ansteht, dann sagt Andrea Thiemann sich: „Wir machen doch auch nicht immer alles richtig.“ Inzwischen nehmen sich Andrea und Claus auch die Freiheit, mit Nick und Anna einmal allein Urlaub zu machen. Felix wissen sie dann in einer Kurzzeitpflegestelle gut untergebracht. Dann sind Unternehmungen wie Wandern, Klettern oder Bootsfahrten möglich, die mit Felix nicht einfach durchzuführen sind.

Und was, wenn die gesunden Kinder erwachsen werden und aus dem Haus gehen und die Eltern sich womöglich nicht mehr in der Lage sehen, rund um die Uhr für das dauerhaft kranke Familienmitglied zu sorgen? In der für sie typi­schen Mischung aus Gottvertrauen und humorvollem Prag­ma­tismus geht Andrea Thiemann auch mit dem Thema Zukunft um. „Ohne ein gewisses Maß an Gottvertrauen sollte man keine Kinder in die Welt setzen“, sagt sie. Auch für Felix weitere Zukunft wird es eine Lösung geben, etwa in einer betreuten Behinderten-WG oder in einem Heim. Aber bis dahin ist noch Zeit. Und heute findet Andrea Thiemann, dass sie in einer gesunden Familie lebt und dass Fe­lix seinen Namen zu Recht trägt. Denn glücklich scheint er meis­tens zu sein.

Geschwisterkinder – Reden hilft

  • Eine gründliche Aufklärung über die Behinderung kann helfen, die Ängste der Geschwister abzubauen, die sich oft im Geheimen die Schuld an der Krankheit geben oder Angst davor haben, ebenfalls zu erkranken. Solche Informationen können ihnen auch helfen Freunden oder Außenstehenden Antwort zu geben, die womöglich ablehnend oder befremdet reagieren.
  • Geschwisterkinder spüren den Kummer und die Sorge ihrer Eltern, auch wenn die sich um „Normalität“ bemühen und sich so wenig wie möglich anmerken lassen wollen. Auch hier helfen altersangemessene Erklärungen.
  • Gesunde Geschwisterkinder lernen schnell, eigene Bedürfnisse zurückzustellen. Auch wenn sie sich womöglich sehr kooperativ oder verantwortungsbewusst zeigen, können sie (unbewusst) wütend auf das „Sorgenkind“ sein, dürfen ihre Wut aber nicht gegen die behinderte Schwester oder den kranken Bruder richten. Kinder, denen jeder Ausdruck von Rivalität oder Aggression gegen das behinderte Geschwister verboten wird, können auch nicht frei und spielerisch mit ihm umgehen.
  • Je akzeptierender die Eltern mit der Behinderung eines Kindes umgehen, umso unbelasteter sind in der Regel die gesunden Geschwisterkinder. Wenn von den Eltern die Botschaft ausgeht: „Wir sind eine vom Schicksal benachteiligte, unglückliche Familie“, entwickeln auch Kinder eine Grundeinstellung, die es ihnen erschwert, dem Leben positiv zu begegnen. K.V.