H oder die Weiße Welle
Förster machen den Weg frei für mehr Artenvielfalt im Wald
Waldspaziergänger haben sich bestimmt schon gefragt, was die weißen Wellen am Stamm dicker Buchen oder Eichen bedeuten. Dahinter steckt das neue „Konzept zum Umgang mit Biotopbäumen, Altbäumen und Totholz“ (BAT) von Landesforsten Rheinland-Pfalz, in Hessen und anderen Bundesländern auch Alt- und Totholzkonzept (AuT) genannt. Der sauber aufgeräumte Wald ist schon lange passé, nun gibt es neben der Ökonomie noch einen Grund, mehr Totholz im Wald zu lassen: Die Artenvielfalt.

Foto: Setzepfand
In Wäldern sind aber gerade die im Alterungsprozesse entstehenden Habitatstrukturen wie grobe und abblätternde Borke, Kronenbrüche, Stammschäden, Frost- und Mantelrisse, tote und herausgebrochene Starkäste oder Höhlen wesentliche Schlüsselfaktoren für die biologische Vielfalt. Waldbäume können ein sehr hohes Alter erreichen, Buchen werden im Höchstfall 400 bis 500 Jahre alt, Eichen sogar doppelt so alt. Stehende alte oder tote Bäume mit grober Borke sind Voraussetzung für viele Arten, wie den Mittelspecht oder für eine Reihe an Moosen, für die diese Strukturen sehr häufig wichtiger sind, als die Baumart selbst, an der sie vorkommen.
Totholz für Artenvielfalt lange unterschätzt
Einer der bedeutendsten Lebensraumbildner im Wald ist das Totholz. Mindestens ein Viertel der ursprünglichen natürlichen Artenvielfalt bestand aus Totholzlebensgemeinschaften und damit Urwaldreliktarten, die an kontinuierliche Habitat- und vor allem Totholztradition an starkem, stark zersetzten Totholz gebunden waren. Von 6 500 Käferarten in Deutschland sind 1 400 an Totholz angewiesen, 1 500 Pilzarten, 30 Vogelarten, 16 Fledermausarten und 54 Wildbienenarten. Dazu zählen auch unzählige Grabwespen, Faltwespen, Schlupfwespen und auch Wirbeltiere wie Haselmaus, Siebenschläfer, Wildkatze oder Baummarder.
Um diese Gruppen der Waldarten geht es den Förstern vor allem. Einen Eindruck zu ihren Vorkommen vermitteln die Ergebnisse aus den etwa drei Jahrzehnten Naturwaldforschung der rheinland-pfälzischen Forschungsanstalt für Waldökologie und Forstwirtschaft. Gerade die ältesten Naturwaldreservate wie „Tabener Urwald“ (seit 1938) und „Mörderhäufel„ (seit 1958) erweisen sich als „hot spots“ der Käferdiversität und werden „Deutschlands Tropenwälder“ genannt. Auf nur 45 ha Wald von zwei Naturwaldreservaten im Bienwald finden sich 22 Prozent, das sind 1 410 Arten, aller Käferarten Deutschlands (D hat 11 Mio. ha Wald) und 38 Prozent, das sind 538 Arten, aller Totholzkäferarten. Wegen des hohen Baumalters, Alters der Waldstandorte und Dauer der Bewirtschaftungsruhe finden sich dort vor allem viele Urwaldreliktarten.
Der Totholzreichtum beträgt in rheinland-pfälzischen Naturwaldreservaten im Durchschnitt 50 m³ je Hektar (Spreite von 6 bis 350 m³), die bewirtschafteten Vergleichsflächen erreichen demgegenüber durchschnittlich nur 23 m³ je Hektar. Die Ergebnisse der paarweise durchgeführten Untersuchungen spezieller Artengruppen ergab einen deutlich höheren Artenreichtum bezüglich aller Käferarten in Naturwaldreservaten im Vergleich zu bewirtschafteten Vergleichsflächen, die Unterschiede waren bezüglich der an Totholz angewiesenen Käferarten noch deutlicher. Auch bezüglich der Pilze erwiesen sich Naturwaldreservate stets artenreicher, bei Moosen, Fledermäusen und Vögeln war dies zumindest überwiegend der Fall.Durch ihren hohen Reichtum an Strukturen, Lebensräumen und Arten vor allem auch Reliktarten, sind Naturwaldreservate wichtige Refugien und Spenderflächen für umliegende Wälder.
Wozu braucht man ein Konzept?
Auf den ersten Blick wäre es sicherlich die einfachste Lösung, den Wald sich selbst zu überlassen. Schließlich werden in der Forstwirtschaft Bäume zum Sägewerk gebracht, noch bevor sie die Phase hohen Alters erreicht haben. Doch ein Blick auf die Statistik unseres Holzverbrauchs in Deutschland zeigt, dass wir bereits jetzt große Anteile des Holzes importieren – oft aus Ländern in welchen noch Urwald gerodet wird. Auch vor dem Hintergrund weltweiter Verhandlungen zur Biodiversität sind wir geradezu verpflichtet, unseren Holzbedarf so weit wie möglich durch Eigenproduktion zu decken. Also ist – wie so oft – die Kombination Ökologie und Ökonomie die Herausforderung. Im Nachgang zur Weltkonferenz zur Biodiversität (CBD) in Bonn 2008, hat Landesforsten sich eine Leitlinie zur Erhaltung der Biodiversität gegeben. Das BAT-Konzept ist eine Komponente davon.
Zahlreiche streng geschützte Tier- und Pflanzenarten sind auf Lebensraumstrukturen, die an alten oder toten Bäumen zu finden sind, angewiesen. Ihre Populationen zu erhalten und zu fördern ist Ziel und Verpflichtung zugleich.
Eine weitere Motivation ist die Arbeitssicherheit in der Waldarbeit. Anfang der 90er Jahre haben sich alle Forstleute in Schulungen mit der ökologischen Bedeutung von Totholz im Wald vertraut gemacht und seitdem konsequenterweise auch Totholz flächendeckend im Wald stehen lassen. In den letzten Jahren ist eine hohe Zahl schwerster Unfälle in der Waldarbeit durch herabfallendes oder umstürzendes Totholz zu beklagen. Eine räumliche Konzentration von Totholz im Wald kann auch die Gefahrenbereiche bündeln und zur erhöhten Sicherheit beitragen. Die damit einhergehende gute Erkennbarkeit von Gefährdungen durch die Markierungen, trägt entscheidend dazu bei, Unfälle zu vermeiden. Ziel ist es, Mensch und Gefahr so weit wie möglich zu trennen.
Wie also schafft man es, diese vielfältigen Ziele unter einen Hut zu bringen? Andere Länder Europas gehen den Weg der starken Trennung. Plantage hier – Schutzgebiet dort. Die staatlichen Forstbetriebe in Hessen und Rheinland-Pfalz werden hingegen die seit mehr als 20 Jahren praktizierte und bewährte „Naturnahe Forstwirtschaft“ fortführen und weiterentwickeln. Die einzelstammweise Nutzung erfordert eine intensive Auseinandersetzung der Förster mit jeder einzelnen Waldfläche. Das Konzept sieht vor, innerhalb der forstlichen Bewirtschaftung Bereiche unterschiedlicher Größe ausschließlich dem Artenschutz und der Biotopentwicklung zu widmen. Mittelfristig wird ein landesweites Netz von kleineren und größeren Alt- und Totholzbiotopen entstehen. In den Waldflächen dazwischen wird sicherlich keine „biologische Wüste“ vorzufinden sein, aber es bietet sich an, hier verstärkt auf den Schutz der darin arbeitenden Menschen zu achten.
Die einzelnen Elemente des BAT Konzeptes sind:
- Naturwaldgebiete
Große, zusammenhängende Gebiete, die nicht forstlich bewirtschaftet werden, wie Naturwaldreservate, Kernzonen im Biosphärenreservat. - Waldrefugien
Waldflächen, die ab sofort ausschließlich der Biotopentwicklung gewidmet werden. Oft sind es Sonderstandorte wie besonders trockene oder vernässte Flächen. - Biotopbaumgruppen
In älteren Waldbeständen (ab Alter 120), oder dort, wo die Reifephase und der Generationenwechsel überwiegen, verbleiben 15 Bäume als Baumgruppe und werden nicht geerntet. Pro 3 ha soll eine Baumgruppe eingerichtet werden. Die Biotopbaumgruppen bleiben bis zu ihrem Zerfall unberührt. - Einzelne Biotopbäume
Einzelne Bäume, die eine herausragende Bedeutung für den Artenschutz haben oder heute bereits „Methusalems“ sind, bleiben bis zu ihrem Zerfall erhalten.
Alle Bäume der Biotopbaumgruppen und Randbäume von Waldrefugien, werden mit einer weißen Welle gekennzeichnet. Kritiker sprechen von Graffiti im Wald. Aber seit der Einführung der einzelstammweisen Bewirtschaftung des Waldes ist es eben auch nötig geworden, sich mit allen im Wald Arbeitenden über einzelne Bäume zu verständigen. Die Markierung ist die unerlässliche Sprache im Wald.
Sofern sich Waldbesucher abseits der Wege im Wald aufhalten, sollten sie einen großen Abstand (mindestens 40 m) zu den mit Wellen markierten Bäumen halten, um sich nicht zu gefährden.
Einführung der Weißen Welle

Foto: mulewf
Ende August war es soweit: Im rheinland-pfälzischen Staatswald wurde das Konzept gültig. Umweltministerin Ulrike Höfken markierte den ersten offiziellen Biotopbaum des Landes. Innerhalb von sechs Wochen wurden rund 900 Förster in der praktischen Umsetzung geschult. Seitdem stellen die Forstleute das Konzept auch den waldbesitzenden Gemeinden vor und diskutieren über die Einführung in ihren Wäldern. Das Zertifizierungssystem „Forest Stewardship Council“ (FSC) verlangt grundsätzlich ein Biotopbaumkonzept. Seit Mai 2011 führt Landesforsten stufenweise das FSC Zertifikat ein. Das BAT Konzept ist ein Meilenstein hierzu.
Bei einer zu erwartenden ökologischen Verbesserung, können die beschriebenen BAT-Flächen grundsätzlich auch als Ökokonto oder als Ausgleichsmaßnahmen im Sinne des Naturschutzrechtes, sowohl im Gemeinde- als auch im Privatwald anerkannt werden.
Im Rahmen des Artikels konnten nur wenige Eckpunkte des Konzepts beschrieben werden. Sowohl das vollständige Konzept zum Umgang mit Biotopbäumen, Altbäumen und Totholz, als auch die „Ziele und Grundsätze zur Erhalt der Biodiversität im Wald“ sind als download unter www.wald-rlp.de bei Lebensraum Wald > Biodiversität zu finden.
Interview mit Frank Scheler
Das Alt- und Totholzkonzept in Hessen wird im Rahmen der Naturschutzleitlinie umgesetzt. Frank Scheler von Hessen Forst, zuständig für den Waldnaturschutz, erklärt wie.
LW: Wie wird das AuT-Konzept in Hessen umgesetzt?
Scheler: Hessen hat seit dem 26. August 2010 eine Naturschutzleitlinie für die Staatswaldbewirtschaftung. Ein Alt- und Totholzkonzept ist Teil dieser Naturschutzleitlinie. Dieses besteht aus einem Modul zur Habitatbaumauswahl und einem Modul zur Auswahl von Prozessschutzflächen (Kernflächen). Beide Säulen des Konzeptes werden zur Totholzanreicherung im Staatswald beitragen.
LW: Welche Kriterien werden hier angewendet?
Scheler: Das Kernflächenkonzept der Naturschutzleitlinie folgt der sogenannten Hotspot-Theorie. Diese besagt, dass Naturschutzflächen im Wald nicht entsprechend willkürlich gesetzter Prozentzahlen ausgewählt werden, sondern da, wo bereits Biodiversitätszentren bestehen. Bestandteil des Konzeptes sind insbesondere Waldflächen auf Nass- und Trockenstandorten, Waldflächen, die als Waldbiotope kartiert wurden, Buchenbestände älter als 180 und Eichenbestände älter als 240 Jahre, Waldbestände des Grenzwirtschaftswaldes mit besonderer naturschutzfachlicher Wertigkeit sowie alle bisherigen nicht bewirtschafateten Flächen z.B. in Naturschutzgebieten. Die Forstämter treffen die Einzelflächenauswahl aus einer Vorschlagsliste der Forsteinrichtungsanstalt. Der Naturschutz wird im Verfahren beteiligt.
LW: Wird das AuT in allen Bundesländern umgesetzt? Auch im Ausland?
Scheler: Viele Bundesländer haben ein AuT-Konzept mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung. Manche Länder setzen mehr auf Habitatbaumauswahl und weniger auf Prozessschutzflächen. Das Ziel ist aber immer, zusätzliche Habitate für die Arten der Alters- und Zerfallsphase des Waldes zu schaffen.
Aus Österreich und der Schweiz sind ähnliche Konzepte bekannt. Viele Länder, insbesondere außerhalb Europas, verfolgen aber nicht wie wir den Ansatz einer multifunktionalen Forstwirtschaft mit einem Mix von Nutzung, Erholung und Naturschutz auf derselben Fläche. Andere Länder trennen diese Zielsetzungen räumlich, wie die USA oder Kanada mit intensiver Forstwirtschaft mit wenigen Nutzbaumarten und großen Kahlschlägen auf der einen und großen Nationalparks auf der anderen Seite. Im dicht besiedelten Mitteleuropa wird dieser seggregative Ansatz nicht für zielführend erachtet.
LW: Wieviel Hektar fallen dadurch aus der Nutzung?
Scheler: In Hessen werden es 20 000 ha sein. Zusätzlich gibt es ein Konzept zur Identifizierung von Habitatbäumen in den über 100-jährigen Laubholzbeständen des Staatswaldes. In der Summe wird dies zur dauerhaften Auswahl und Markierung bis zum natürlichen Verfall von 210 000 Habitatbäumen führen.
LW: Wann wird es in Hessen eingeführt?
Scheler: Das Habitatbaumkonzept wurde bereits im September 2009, die Naturschutzleitlinie im August 2010 eingeführt. Derzeit befinden sich beide Konzepte noch in der Umsetzung. Diese soll aber 2013 abgeschlossen werden.
Mit Frank Scheler sprach Elke Setzepfand
Dr. Patricia Balcar, FAWF Trippstadt und Britta Kreuselberg, MULEWF, beide Rheinland-Pfalz – LW 51/2012