Wettlauf mit den Erregern

Gießener Rindergesundheitstag zum Thema Kälbergesundheit

Die Kälberverluste in Deutschland liegen seit Jahren bei 10 bis 20 Prozent, etwa die Hälfte davon sind Totgeburten, die andere Hälfte sind Aufzuchtverluste. Dabei variieren die Todesraten der Kälber auf den Höfen von 2   bis zu 30 Prozent. Prof. Martin Kaske von der Tierärztlichen Hochschule (TiHo) Hannover schließt daraus: „Kälberkrankheiten als Bestandsproblem sind Ausdruck von systematischen Fehlern bei Haltung und Fütterung – der Mensch entscheidet, ob es funktioniert oder nicht.“

Kälbergesundheit war Schwerpunkt des 19. Rindergesundheitstages des Innova­ti­ons­teams Milch an den Veterinärkliniken in Gießen.

Foto: Michaela Göbel

Die Halter indes schauten zuerst auf die Milchkühe, weil sie damit ihr Geld verdienten. Doch „die Kälber von heute sind die Kühe von morgen“, so lautete das Thema des Rindergesundheitstages an der Universität Gießen, eine Veranstaltung des Innovationsteams Hessen, bei der die Experten vor allem mehr Aufwand und mehr Sorgfalt bei der Kälberaufzucht forderten. Denn ein Rind, das mit 24 Monaten sein erstes Kalb bekommen soll, muss durchschnittlich 750 Gramm pro Tag zunehmen und „das geht nur, wenn die Kälber von Geburt an gesund sind. Jungtiererkrankungen haben langfristige Konse­quenzen“. So belegen amerikani­sche Untersuchungen: „Tiere oh­ne Atemwegserkrankungen kalben sechs Monate früher als Tiere, die als Kalb eine Lungenentzündung hatten.“ Ähnlich das Ergebnis einer Studie in Kanada: Durchfall-Kälber tragen ein doppeltes Risiko für vorzeitigen Abgang und eine Lungenentzündung im Kälberalter verdoppelt die Wahrscheinlichkeit des Verendens vor dem 30. Lebensmonat. Fazit von Prof. Kaske: „Die Karriere eines Tieres wird früh festgelegt“ – beginnend mit den Umständen der Geburt. „In dem Moment, in dem das Kalb ins Stroh fällt, infiziert es sich schon.“ So schnell es geht, braucht das Neugeborene deshalb den Immunschutz durch die erste Biestmilch (Kolostrum) der Mutter. Aber: „Nur das erste Gemelk ist wirklich Biestmilch“, sagt Dr. Hans-Jürgen Kunz vom Lehr- und Versuchsgut Futterkamp der Landwirtschaftskammer Schleswig-Holstein. Nur sie enthält 100 Gramm Immunglobuline pro Liter, schon im zweiten Gemelk desselben Tages ist der Gehalt auf 60 g gesunken, danach verliert die Biestmilch ihre Schutzfunktion für das Kalb, am Ende des dritten Tages sind es nur noch 5 g Immu­nglobuline pro Liter.

Lässt sich ein direkter Zusammenhang zwischen mangelnder Aufnahme von Kolostrum und Kälberkrankheiten belegen? In Futterkamp wurde dazu jede Woche der Gesamteiweißgehalt im Blutserum von Kälbern gemessen. Fiel er unter den Wert von 55 Gramm pro Liter Blutserum, gingen Krankheiten und Sterblichkeit deutlich in die Höhe: Bei jedem zweiten Kalb trat Durchfall auf, bei jedem siebten eine Lungenentzündung, die Sterblichkeit betrug 2,5 Prozent. Lag der Proteingehalt im Blutserum dagegen bei 60 g/l, erkrankte nur noch jedes 15. Kalb an Durchfall oder Lungenentzündung und zudem gab es keine Todesfälle. Anschließend wurde der Zusammenhang zwischen Proteinwerten im Blut und Versorgung mit Biestmilch geklärt: Von den Kälbern, die am ersten Tag weniger als zwei Liter Biestmilch erhalten hatten, erreichte nur jedes Dritte einen Wert über 55 g Eiweiß pro Liter Blutserum. Hatten sie über drei Liter Biestmilch getrunken, war der Anteil der Kälber mit Eiweißwerten im sicheren Bereich dagegen doppelt so hoch. Der Rat für die erste Biestmilchgabe ist deshalb eindeutig: „So früh wie möglich und so viel wie möglich“. Die empfohlene Menge: „Vier Liter in den ersten zwölf Stunden“, und zwar verteilt auf zwei bis drei Liter sofort, „bevor die Darmschran­ke des Kalbs für die Aufnahme der Immunglobuline schließt“ und noch einmal zwei bis drei Liter vom zweiten Gemelk acht Stunden später. Beim Kolostrum geht es um die eine Frage: „Wie viel Vorsprung bekommen die Bakterien?“ Ulrike Exner von Boehringer Ingelheim nannte es das „Wettrennen in der Abkalbebox“ - wer sei schneller, Erreger oder Antikörper?

Biestmilch ist „Arzneimittel“

Prof. Martin Kaske von der TiHo Hannover meint sogar, das Erstgemelk der Biestmilch sei kein Futtermittel, sondern ein Arzneimittel: „Der Tierarzt hat nichts im Kofferraum, was mit dem Erstgemelk Ihrer Kühe vergleichbar wäre.“ Nicht anders als frühe Krankheiten zeigt auch die gute Anfangsernährung Spätwirkungen, diesmal positive: Sie verbessert die langfristige Futteraufnahme. Prof. Kaske zitierte eine Studie aus Israel, bei der Kälber zwischen dem 5. und 42. Lebenstag restriktiv mit Milchaustauscher gefüttert wurden, eine Vergleichsgruppe dazu saugte drei Mal täglich an der Mutter. Ab dem 43. Tag erhielten beide Gruppen das gleiche Futter. Dabei zeigte sich: Die in den ersten sechs Wochen knapp gefütterten Kälber holten ihren Rückstand auch später nicht mehr auf, ihre Leistung blieb in der ersten Laktation um 450 kg niedriger als die der reichlich ernährten Kälber. „Intensive Fütterung in den ersten Wochen verbessert die langfristige Leistungsbereitschaft,“ so das Fazit von Prof. Martin Kaske.

Unterschied bei Milchpulver

Ganz entscheidend für den Aufzuchterfolg ist die Qualität der Milchaustauscher – 120 verschiedene Sorten stehen zur Auswahl und man solle sehr auf die Details der Kennzeichnung achten, sagt Hans-Jürgen Kunz aus Futterkamp. Eingekauft werde meist nach dem ersten Wert in der Liste der Inhaltsstoffe, dort steht der Gehalt an Rohprotein (zum Beispiel 23 Prozent), doch Kunz warnt: „Das sagt Ihnen herzlich wenig.“ Die wichtigere Information stehe unten auf dem Sackanhänger in der Zusammensetzung: „Uns interessieren die Austauscher Magermilchpulver und Molkenpulver“. Er rät zur „Vorsicht, wenn Sie ganz niedrige Preise hören.“ Seit 2006 die Magermilchbeihilfe zur Verwendung in Milchaustauschern gestrichen wurde, sei es ein knapper Rohstoff geworden. Sehr genau sei deshalb zu beachten, aus welchen der vielen Magermilchfraktionen im Herstellungsprozess der Molkerei das Protein tatsächlich stammt – die Unterschiede sind beträchtlich. So enthält Magermilchpulver 35 Prozent Protein, einschließlich des Kaseins. Süßmolkenpulver dagegen fehlt dieses Kasein, der Eiweißgehalt sinkt auf 12 Prozent, Molkenpulver „stark entzuckert“ erreicht wieder einen Eiweißgehalt von 20 Prozent.

Ersatz der Milcheiweiße

Beim Ersatz der Milcheiweiße kommen in den MAT hoch proteinhaltige Futtermittel zum Einsatz, darunter Sojaprotein-Konzentrat mit 67 Prozent oder Soja­protein-Isolat mit sogar 86 Prozent. „Damit wird der Protein-Gehalt billig in die Höhe getrieben“, sagt Kunz – es gebe nur ein kleines Problem dabei, „und dieses Problem hat ihr Kalb.“ Das Kalb produziert in seinem Labmagen nämlich das Enzym Chymosin, aber „mit Chymosin können sie keine pflanzlichen Eiweiße verdauen, dafür brauchen Sie Pepsin, das hat das Kalb aber nicht.“ Die Folge ist dass ein Anteil von 20 Prozent Soja-Feinmehl im MAT verursachte bei Kälbern 30 Durchfalltage und deutlich gesunkene Tageszunahmen. Hans-Jürgen Kunz findet dazu deutliche Worte: „Soja-Feinmehl dürfte in der Kälberaufzucht gar nicht eingesetzt werden – damit bringen Sie Kälber um.“ Vor Jahren bereits seien in Dänemark mehrere 100 Kälber an solchen Austauschern verendet. Auch solle man nicht vorschnell Prozentangaben folgen. Wenn bei einem billigen MAT zum Beispiel 17 Prozent pflanzliche Bestandteile angegeben sind, dann stellen diese – wegen ihres sehr hohen Proteingehaltes – tatsächlich 56 Prozent des Proteins im MAT. Auch hier wurden die Spätfolgen untersucht: Nach Fütterung mit pflanzlichem Protein im MAT blieben die spätere Kraftfutteraufnahme und die täglichen Zunahmen geringer.

Die Differenz gegenüber rei­nem Magermilch­austauscher lag am Ende der neunten Woche bei über 9 kg. „So billig kann ein MAT nicht sein, dass es sich lohnt, den einzusetzen,“ sagt der Experte der Landwirtschaftskammer Schleswig Holstein. Auf dem Sackanhänger sollten beim Alleinfuttermittel für Aufzuchtkälber am besten überhaupt keine pflanzlichen Proteine erscheinen. Wenn man bedenke, dass Rinder bereits mit neun Monaten geschlechtsreif seien und mit 15 Mo­naten besamt wür­den, dann könnten alle Er­kennt­nisse bedeuten: „Wir müssen vorne Gas geben,“ so das Fazit.

Neues zum „Blutschwitzen“

Prof. Klaus Doll von der Rinderklinik der Uni Gießen berichtete auf dem Rindergesundheitstag über neue Erkenntnisse zum sogenannten Blutschwitzen von jungen Kälbern. Diese „hämorrhagische Diathese“ sei nichts vollkommen Neues. „Wir haben solche Bilder schon vor 10 bis 15 Jahren gesehen,“ sagt Doll. Damals aber war es vor allem ein Rückgang der roten Blutkörperchen, während die aktuellen Fälle einen dramatischen Verfall von roten und weißen Blutkörperchen und zusätzlich Schäden am Knochenmark zeigen. Auffallend beim Blutschwitzen sei die Häufung in einzelnen Beständen, in einem Extremfall starben 40 Kälber in einer Herde von 100 Milchkühen. Die Geburt verläuft noch normal, auch das Kolostrum sei normal, erstes Krankheitszeichen sei ein „angestrengtes, pumpendes Verhalten“ der Kälber nach der ersten Kolostrum-Aufnahme. Unübersehbar wird die Krankheit durch Blutungen der Haut, sie träten aber nicht spontan, sondern erst nach leichten Verletzungen oder Insektenstichen auf, schon durch eine minimale Wunde am Flotzmaul sei ein Kalb bereits über Nacht verblutet. Die äußeren Kennzeichen seien insgesamt aber das geringere Ãœbel, schlimmer seien die parallel verlaufenden inneren Blutungen in Körperhöhlen und im Darm, die sich erst zeigten, wenn das Kalb in der Klinik seziert werde. Bisweilen zeige sich dann zusätzlich ein Darmverschluss infolge von Blutergüssen im Darm. Nicht richtig sei, dass die Krankheit mit hohem Fieber verlaufe, bei keinem Kalb in der kritischen Phase wurden in der Gießener Rinderklinik Temperaturen über 39,5 Grad gemessen. Rätselhaft sei nach wie vor die Ursache. Auch die Ãœbertragung von Organmaterial kranker Tiere auf gesunde löste keine Infektion aus, das Blutschwitzen ist nicht ansteckend. Als sicher gilt mittlerweile: Es hängt zusammen mit der Aufnahme von Kolostrum. „Das Knochenmark war vor der Aufnahme von Kolostrum völlig unauffällig“, berichtete Doll von einem Fall. Erst die Kolostrumaufnahme löste die wahrscheinlich immunbedingte Zerstörung aus, mit schnellem und extremem Verlauf. Für auffällig hält Doll: „Alle Kälber stammen aus BVD-Impfbeständen“. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass das nächste Kalb wieder blutet, wenn eine Kuh bereits ein Blut schwitzendes Kalb hatte? Doll nennt auf Basis seiner Erfahrung eine Wahrscheinlichkeit von 70 Prozent, aber wissenschaftlich belegt sei es noch nicht. Sicher sei aber: „Es ist keine Erbkrankheit“, man solle deshalb nicht alle Bluterkühe eliminieren, wohl aber deren Kolostrum nicht mehr verwenden. Erste Erfolge meldet die Gießener Rinderklinik mittlerweile bei der Heilung des Blutschwitzens. Hier erhalten die Kälber Bluttransfusionen, aber keinesfalls vom Blut der Mutter. In einem Fall wurden in zehn Tagen zwölf Liter Blut übertragen – das Kalb überlebte. Schlag