Die Dohle
Vogel des Jahres 2012
Die typischen Kirchturmdohlen unserer Städte und Dörfer sind in den letzten Jahrzehnten stark zurückgegangen. Die Wahl zum Vogel des Jahres 2012 könnte den schlauen Rabenvögeln helfen. Verhaltensforscher bringen immer wieder neue Erkenntnisse zur Intelligenz der Tiere ans Tageslicht.
Man kennt die Dohlen von Kirchtürmen und Schlössern. Oder wenn im Herbst und Winter große Schwärme von Rabenvögeln in eindrucksvollen Formationen über die Häuserfronten der Städte ziehen. Dann befinden sich auch zumeist Dohlen unter den laut krächzenden Schwarzgefiederten. Man erkennt die kleineren Krähenvögel im Schwarm nicht auf den ersten Blick. Wohl aber ist es nicht schwer, ihre typischen „kjak“-Rufe herauszuhören.Im Vergleich zu den anderen bei uns überwinternden Rabenvogelarten Saat-, Nebel- und Rabenkrähe sind die Dohlen kleiner und gedrungener. Außer ihrem schwarzen Gefieder haben sie einen auffällig grauen Hinterkopf und Nacken. Aus der Nähe kann man ihre helle Iris erkennen, die andere Rabenvögel nicht haben.
Verschlossene Nischen
Auch wenn die aus Nord- und Osteuropa stammenden Dohlen im Winter bei uns recht häufig sind, so ist ihre Situation in den Frühjahrs- und Sommermonaten in Deutschland alles andere als zufriedenstellend: In vielen Bundesländern hat sich die Anzahl an Brutpaaren in den letzten Jahrzehnten deutlich verringert. Weil zahlreiche Gebäude renoviert und isoliert wurden, verÂschwanÂden die Brutplätze der Dohlen. Die Tiere nisten im Inneren von Gebäuden, in Mauerlöchern, Nischen und Hohlräumen.
Oft wurden aus Gedankenlosigkeit, Unwissenheit oder mit Absicht von Gemeinden und privaten Hauseigentümern Einflugmöglichkeiten in Kirchtürmen und anderen Gebäuden verschlossen. Weil aber die natürlichen Baum- und Felsenbrutplätze verloren gegangen sind, sind die Dohlen auf ein Leben im menschlichen Siedlungsraum angewiesen. Neben dem Verlust an Brutmöglichkeiten hat sich auch die Nahrungssituation durch immer intensivere konventionelle Landwirtschaft des Umlandes verschlechtert.
Darum kann es von großem Nutzen sein, dass die Dohle zum Vogel des Jahres 2012 auserkoren wurde. Durch die Aufmerksamkeit sollen private Hauseigentümer, aber auch öffentÂliche Einrichtungen für deren Schutz sensibilisiert werden. Denn es ist gar nicht so schwer, für die Vogelart etwas zu tun: Man muss nicht gleich sein gesamtes Grundstück ökologisch bewirtschaften, so wie es für eine Reihe anderer Singvogelarten notwendig wäre. Es reicht aus, wenn man Dohlen-Nistkästen an Stellen anbringt, wo in der Vergangenheit Brutstätten verloren gegangen sind. Auf den Internetseiten der Umweltverbände kann man sich über Erwerb und Anbringung der Kästen informieren.
Von den Augen abgelesen
Wer durch ein Brutpaar am eigenen Haus oder in der Nachbarschaft einen regelmäßigen Kontakt zu Dohlen hat, kann mit etwas Geduld viele interessante BeobÂachtungen machen. Eine Reihe von Tätigkeiten wie Fliegen, Putzen oder Nistmaterial suchen werden von beiden Partnern gemeinsam durchgeführt. Das ist kein Wunder, schließlich bleibt ein Dohlenpaar ein Leben lang zusammen. Im Laufe der Zeit stimmen sie sich immer besser aufeinander ein. Dieses Verhalten erfordert Kommunikation untereinander, weil die Tiere wissen müssen, was der andere Partner vor hat.
Ein deutsch-englisches Forscherduo der Universität Cambridge untersuchte darum, inwieweit Dohlen anderen Lebewesen von den Augen ablesen können. Nur nahmen sie keine Artgenossen als Gegenspieler, sondern Menschen. Die Wissenschaftlerin Auguste von Bayern experimentierte dazu mit zehn von ihr handaufgezogenen und somit vertrauten Dohlen: Wenn sie Mehlwürmer in eine Schale legte, stürzten sich sofort alle Dohlen darauf. Wenn allerdings eine fremde Person hinter der Schale stand und die Vögel direkt anschaute, so zögerten die Dohlen im Durchschnitt 4,5 Minuten. Wenn die fremde Person zur Seite schaute, brauchten die Vögel nur zwei Minuten, um sich die Leckerbissen zu schnappen. Kehrte die Person der Schale den Rücken zu oder schloss die Augen, so ging es noch schneller.
Bei einem ähnlichen Experiment waren die Mehlwürmer unter einer von zwei Schalen versteckt. Die Dohlen verstanden es, wenn die Ziehmutter direkt auf die Schale blickte oder mit dem Finger darauf zeigte. Dann fanden sie die Würmer. Wenn hingegen eine fremde Person Hinweise geben wollte, dann gelangen den Dohlen nur zufällige Treffer. Doch woher kommt dieses erstaunliche Verhalten? Zunächst kann man festhalten, dass die Augen der Menschen ähnlich denen der Dohlen sind: Die dunkle PupilÂÂle ist von weißer Farbe umgeben, wodurch man die Blickrichtung gut erkennen kann. Welche Rolle die Augen bei der Wahrnehmung haben, könnten die Krähen durch arttypisches Sozialverhalten erlernt haben: Dohlen gehen lebensÂlange Partnerschaften ein und müssen sich somit oft mit ihrem Partner abstimmen, um zusammen leben zu können. In bestimmten Situationen vertrauen die Krähen befreundeten Individuen deshalb mehr als fremden – seien es nun Dohlen oder Menschen.
Fürsorgliche Rabeneltern
Angesichts der erstaunlichen Verhaltensweisen der Dohlen und anderer Rabenvögel, deren Intelligenz von manchen Wissenschaftlern der von Schimpansen gleichgesetzt wird, ist es verwunderlich, warum Rabenvögeln noch immer ein negatives Image anhaftet. Im Mittelalter wurden aus den ehemaligen Göttervögeln Galgenvögel: Weil die Vögel an Kriegsschauplätzen präsent waren, um sich dort von dem herumliegenden menschlichen Kadavern zu ernähren, heftete man ihnen diesen schlechten Ruf an.
Eine Reihe von Vorurteilen müssen sich die schwarzen Gesellen seither gefallen lassen. So genannte „Rabeneltern“ gelten beim Menschen als schlechte Eltern. Man sagt Rabenvögeln außerdem nach, sie plündern Singvogelnester aus und gefährden deren Bestände. In der Hauptsache ernähren sich Rabenvögel von Sämereien und Kleingetier. Nur ausnahmsweise fressen manche Arten wie die Elstern im Frühjahr Singvogeleier oder Nestjunge. Damit dezimieren sie jedoch nicht die häufigen Drossel- und Finkenvögel unserer Gärten.
Durch die Vorliebe der Rabenvögel für Aas wirken die Tiere in der Natur wie eine „Gesundheitspolizei“: Sie fressen Kadaver toter Tiere und verhindern damit das Ausbreiten von auch für uns Menschen ansteckenden Krankheiten. Weil sich Rabenvögel fürsorglich um ihren Nachwuchs kümmern, bleibt es unverständlich, warum ihnen das Image von „schlechten Eltern“ anhaftet.
Michael Dech