Zu fit fürs Altenheim, zu gesellig zum Alleinsein
Die Senioren-WG auf dem Bauernhof
Der Bauernhof von Andrea und Theo Müller im Dörfchen Brilon-Radlinghausen ist für acht Senioren im Alter zwischen 70 und 90 Jahren zur neuen Heimat geworden. Sie leben dort in der Senioren-WG, die jedem Bewohner individuellen Freiraum, aber gleichzeitig auch ein Stück Familie bietet.
„Hoch auf dem gelben Wagen“ klingt es aus dem Gemeinschaftsraum. Es ist Mittwochnachmittag, und da treffen sich regelmäßig einige Senioren zum Singkreis. Erwin Miducki leitet die Gruppe und begleitet die Mitsängerinnen und -sänger auf seiner Gitarre. Der Mittsiebziger ist vor einigen Jahren aus Oberhausen in das 132-Seelendorf Radlinghausen gekommen und bewohnt auf dem Bauernhof eine Wohnung mit geräumiger Küche, einem hellen freundlichen Schlafwohnraum und eigenem seniorengerechten Bad. Der Senior aus dem Ruhrgebiet kocht selbst regelmäßig. Alternativ hätte er aber auch die Möglichkeit, das Mittagessen von Betriebsleiterin Andrea Müller zu bestellen, so wie einige seiner Mitbewohner in der Senioren-WG.„Unsere Senioren sind zuallererst Mieter mit einem normalen Mietvertrag. Darüber hinaus können sie von uns verschiedene Dienstleistungen, wie beispielsweise Putzen oder Wäsche waschen hinzubuchen“, erklärt die Initiatorin des Projekts. Zweimal wöchentlich fährt ein Mitglied der Familie zum Einkaufen nach Brilon. Einige Senioren schließen sich dann gerne an, wenn sie beispielsweise selbst bummeln wollen oder zum Arzt müssen. „Für die zusätzlichen Angebote haben wir ein separates Dienstleistungsunternehmen gegründet“, erläutert Betriebsleiterin Andrea Müller. „Den Senioren steht es völlig frei, ob sie unsere Dienste nutzen oder sich etwa die Putzhilfe oder einen Wäscheservice selbst organisieren“, erklärt sie weiter. Pflegeleistungen darf Andrea Müller allerdings nicht anbieten, denn dann würde das ganze Wohnprojekt anderen Gesetzesgrundlagen unterliegen. Notwendige Pflegeleistungen werden daher von den örtlichen Pflegediensten übernommen. „Schwierig wird es dann, wenn ein Bewohner in hohem Maße pflegebedürftig oder etwa auch dement wird. Dann müssen wir im Einzelfall entscheiden, ob der Betroffene möglicherweise noch mit Unterstützung seiner eigenen Familie weiter auf unserem Hof wohnen kann. Das ist zumindest unser Ziel“, schildert sie.
Wer möchte, kann sich auf dem Hof in verschiedenster Weise betätigen. So versorgt der Senior und ehemalige Landwirt Johannes Stelte beispielsweise regelmäßig die Tiere im Stall. Kühe und Mastschweine haben die Müllers seit Ende der 1990er Jahre nicht mehr, aber dafür gibt es Ziegen, Schafe, Kaninchen und auch Reitpferde auf dem Betrieb. Letztere setzt Tochter Rebecca Müller als Heilpädagogin in der tiergestützten Therapie ein.
40 Interessenten aus dem Ruhrgebiet
Dass der Bauernhof heute Senioren eine Heimat bietet, ist einer Zufallsbegegnung in einem Krankenhaus zu verdanken. Dort lag Frau Müller mit einer älteren Dame zusammen im Zimmer, der der Umzug ins Altenheim drohte, weil sie körperlich gebrechlich war. „Ich erzählte von unserem Bauernhof und da fragte mich die Dame ganz direkt, ob wir sie nicht aufnehmen könnten. Wir hätten doch in einem Bauernhaus sicher Platz genug“, erzählt die gelernte Bürokauffrau. Was die alte Dame damals angeregt hatte, konnte Familie Müller Jahre später, als die Wohnung der Altenteiler im Haus leer stand, in die Tat umsetzen.„Das können Sie vergessen“, war die erste Antwort einer sozialen Einrichtung, bei der Andrea Müller damals um gute Ratschläge bei der Umsetzung des Projekts Senioren-WG bat. Dennoch wagten die Müllers auch ohne Spezialberatung 2004 den ersten Schritt und suchten drei Senioren, die sich die drei Zimmer und zwei Bäder der ehemaligen Altenteilerwohnung im ersten Stock ihres Wohnhauses teilen sollten. Damit die Treppe auch auf Dauer kein Hindernis für die Senioren darstellt, haben die Müllers vorsorglich einen Treppenlift installiert.
„Senioren-WG auf Bauernhof sucht Mitbewohner“, lautete der schlichte Text der Anzeige, die die Landwirtsfamilie damals in verschiedenen Zeitungen im Ruhrgebiet schaltete. „40 Interessenten haben sich daraufhin gemeldet“, berichtet Andrea Müller. Die erste WG-Bewohnerin, die die Müllers vor acht Jahren unter den Bewerbern aussuchten, eine Dame aus Kamen, ist in diesem Jahr 90 geworden. Der Zufall wollte es, dass das Betriebsleiterehepaar ein altes Bauernhaus nebenan kaufen konnte, dass mittlerweile renoviert und in Seniorenwohnungen mit Gemeinschaftsräumen aufgeteilt ist. Direkt nebenan liegt die Partydeele, die sich mittlerweile zum zentralen Veranstaltungsort des Dorfes entwickelt hat. „Hier trifft sich die Dorfjugend zusammen mit unseren Senioren, und dann werden zum Beispiel Fußballspiele geguckt, wie bei der WM, oder zusammen gefeiert“, schildert die Unternehmerin.
Für eine volle Scheune und gute Stimmung sorgt vor allem der 20-jährige Sohn Manuel, der es immer wieder schafft, auch die jungen Dorfbewohner mit den Senioren auf dem Hof zusammenzubringen.
Eine Familie, die alles mitmacht
„Das Rezept für eine funktionierende Seniorenwohngemeinschaft sind nette Senioren, gute Freunde und eine eigene Familie, die alles mitmacht.“ So hat Andrea Müller das Erfolgsrezept des Wohnmodells auf den Internetseiten formuliert. Der Bauernhof bietet den Senioren nahezu Familienanschluss und da rum sitzen auch alle Familienangehörigen mit im Boot: Ehemann Theo Müller, der seit Aufgabe der Viehhaltung einer Tätigkeit in der Holzverarbeitung nachgeht, sowie Sohn Manuel und Tochter Rebecca. So gibt es regelmäßig an einem Sonntag im Monat ein gemeinsames Frühstück mit den Senioren, zu dem auch Freunde und Bekannte eingeladen werden, und auch an Weihnachten sind die Bewohner nicht alleine geblieben, sondern haben mit ihren Vermietern gemeinsam gefeiert.Darüber hinaus können sich die Senioren mit ihren Wünschen und Bedürfnissen jederzeit an ein Mitglied der Familie wenden.
Mittlerweile ist die Senioren-WG so bekannt geworden, dass Andrea Müller eine Warteliste mit Interessenten führt. Ob eine Dame oder ein Herr in die bestehende Gemeinschaft passt, stellt sich in der Regel während der zweiwöchigen Phase des Probewohnens heraus. Die Entscheidung, wer einziehen darf, behält sich Andrea Müller selbst vor. Bei den letzten beiden Neuzugängen der Senioren-WG – eine Dame mit ihrem Hund – hat sie sich allerdings zuvor bei den Mietern die Zustimmung eingeholt, dass der Vierbeiner mit einziehen darf.
Demnächst soll auch die Ferienwohnung auf dem Betrieb in eine ständige Mietwohnung umfunktioniert werden. Familie Müller möchte das Zusammenleben von Alt und Jung auf ihrem Betrieb weiter fördern, deshalb soll dort zukünftig eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern einziehen.Nur wenige Auflagen
Da die Senioren rein rechtlich Mieter sind, mussten die Müllers auch keine besonderen Auflagen erfüllen. Lediglich Umnutzungsgenehmigungen für landwirtschaftliche Gebäude waren erforderlich. Außerdem wurde die bestehende Betriebshaftpflichtversicherung um die neu hinzugekommenen Risiken erweitert. Aus eigenem Sicherheitsbedürfnis heraus, friert Andrea Müller täglich vom Mittagessen eine Rückstellprobe ein und bewahrt sie eine Woche auf. Dazu ist sie aber rechtlich nicht verpflichtet.
Familie Müller und die Senioren lernt man kennen in einem Fernsehbeitrag der WDR-Sendung „hier und heute“ unter www.wdr.de, Such-Stichwort „Letze Ausfahrt Senioren-WG“.
Annegret Keulen – LW 1/2013