Das Leben mit Kinder-Rheuma

Wenn Kinder chronisch krank sind, leidet die ganze Familie

„Jetzt haben wir ein fünftes Familienmitglied, das immer zu uns gehört.“ So fasste Gerhard Wilden die Situation zusammen, als feststand, dass hinter dem wochenlang geschwollenen Knöchel von Sohn David (6) keine harmlose Verstauchung steckte, sondern Rheuma im Kindesalter. Rheuma heilt eben nicht wie ein gebrochenes Bein. Es geht nicht vorüber wie ein böser Traum und ist nicht nach ein paar Tagen ausgestanden wie die Windpocken.

Das Leben mit einer chronischen Erkrankung des Kindes ist für die ganze Familie nicht einfach.

Foto: imago images

Genau wie manche Allergie, Erkrankunge der Atemwege und der Haut oder wie Diabetes, Herzfehler, Epilepsien oder ADHS ist Rheuma eine chronische Erkrankung. Und das heißt: Die Krankheit wird ein Leben lang zum Leben gehören. Zwar kann sie in vielen Fällen medikamentös „in Schach gehalten“ und behandelt werden, sodass die Symptome womöglich milder werden oder sich zeitweise „verkriechen“, aber sie kann in Schüben oder mit Dauerpräsenz immer wieder auftauchen.

„Einmal Rheuma, immer Rheuma. Als mir das klar wurde, ist für mich damals eine Welt zusammengebrochen“, erinnert sich Davids Mutter Andrea Wilden. Sehr schnell zeigte sich, dass in einer Familie alle wie in einem Mobile miteinander verbunden sind. Was einem Mitglied widerfährt, hat Auswirkungen auf die anderen. Eine chronische Erkrankung eines Kindes kann zum Dauerstress für die ganze Familie führen. Da ist die Ungewissheit, wie die Krankheit verläuft. Würde David oft in der Schule fehlen müssen? Würde er in der Schule mitkommen? Welche Nebenwirkungen würden sich durch die Medikamente einstellen? Wie sind die häufigen Arztbesuche und regelmäßigen Therapietermine im Wochenablauf unterzubringen? Würde David bei der Therapie gut mitarbeiten? Wie reagieren Mitschüler? Wie konnte Davids Schwester Ann Sophie genügend Aufmerksamkeit bekommen, und wie sollte in all dem Raum sein für die Eltern als Liebespaar?

Auch bei Familie Wilden sorgte Davids Erkrankung zunächst einmal dafür, dass das normale Leben vollständig aus den Fugen geriet. Davids Mutter ließ sich mit in die Klinik einweisen, Schwesterchen Ann Sophie wurde bei den Großeltern untergebracht, und Vater Gerhard kam am Wochenende ins Krankenhaus, damit alle gemeinsam „etwas Schönes“ unternehmen konnten. Die Elternschule, die die Klinik anbot, bestärkte die Eltern darin, mit David offen über die Einschränkungen zu sprechen, ihm kindgerecht zu erklären, wie welches Medikament wirkt, und warum welche Behandlung bevorstand – und seinen Schmerz ernstzunehmen.

Sich nicht entmündigen lassen

Die Ärzte drängten bei David auf den Einsatz von Cortison und eines Chemotherapeutikums, auf das er mit heftiger Ãœbelkeit reagierte. „Als Eltern hat man oft gar nicht viel Entscheidungsfreiheit. Man will ja das Beste für sein Kind“, erinnert Andrea Wilden sich an die Anfangszeit. Im Laufe der Jahre haben sie und ihr Mann sich dazu entschlossen, sich nicht vollständig von Fachleuten abhängig zu machen und selbst Regie zu führen. Heute holen sie in wichtigen Fragen eine Zweit- und Drittmeinung ein. Einen Ärztemarathon wollen sie David und sich selbst dennoch nicht zumuten. „Das macht es nur schlimmer“, weiß Andrea Wilden.

In den vergangenen Jahren haben Davids Eltern vieles gelernt: Sie üben, David nicht ständig mit Fragen wie es ihm geht zu nerven. Andrea Wilden kämpft bei Ärzten um verkürzte Wartezeiten und überzeugt sich heute, ob etwa der Augenarzt, der im Rahmen der Rheumaerkrankung konsultiert werden muss, das Krankheitsbild überhaupt ausreichend kennt. Bei manchen Ärzten ist sie inzwischen „als kritische Mutter“ verschrien. Auch außerhalb der Schulmedizin halten beide Eltern nach Hilfe für David Ausschau. Sie visieren sogar einen Ausstieg aus dem Chemotherapeutikum an und sind mit Vertretern alternativer Medizin darüber im Gespräch, wie das Risiko abgefedert werden kann.

Adressen

Rheumaliga für Kinder und Jugendliche
• in Hessen:
  www.rheuma-liga-hessen.de

• in Rheinland-Pfalz:
  www.rheuma-liga-rp.de

Kindernetzwerk:
Mit Selbsthilfegruppen-, Literatur- und Institutionendatenbank für kranke sowie behinderte Kinder und Jugendliche: www.kindernetzwerk.de.

Eigenverantwortung stärken

Als David in Erwartung der durch das Chemotherapeutikums ausgelösten schlimmen Übelkeit immer schon vor der Einnahme des Medikamentes mit Erbrechen reagierte, verabreichte seine Mutter es ihm versuchsweise heimlich mit dem Essen – und siehe da: Die Übelkeit blieb aus. Seither weiß David, dass er das Mittel bekommt – aber nicht wann.

Dass das keine Dauerlösung sein kann, ist seinen Eltern durchaus klar. Je älter David wird, umso mehr soll er in die Verantwortung für therapeutische Maßnahmen einbezogen werden. Von Eltern, die im Blick auf ihr chronisch krankes Kind oft ein überhöhtes Verantwortungs- und Fürsorgegefühl haben und ständig in Sorge um das Wohlergehen sind, ist es oft eine schwere Übung, mit ansehen zu müssen, dass ihr Kind womöglich in der Pubertät mit Regeln experimentiert, gegen sie kämpft oder von ihnen abweicht. Aber auch ein chronisch krankes Kind sollte nicht lebenslang Kind bleiben. Nur so entwickelt es Selbstbewusstsein, kommt aus der Opferrolle heraus und lernt, dass die Krankheit nur ein – wenn auch wichtiger Aspekt – seines Lebens ist.

„Du weißt, wo deine Grenzen sind. Du musst selbst entscheiden, welche Ãœbungen du im Sport mitmachst“, bekommt David etwa im Blick auf seine Beteiligung am Sportunterricht zu hören. Und auch bei seiner Ernährung achtet der Zehnjährige inzwischen selbst darauf, wenig Zucker und kein Schweinefleisch zu essen. Beklagt hat er sich bislang kaum einmal. „Ich habe das Gefühl, die Krankheit hat ihn sensibler und selbstreflektierter gemacht“, meint seine Mutter.

Angebote wahrnehmen

Im Umgang mit der Krankheit hat den Wildens auch die Begegnung mit anderen betroffenen Familien geholfen. „Es tut uns gut zu sehen, dass wir nicht die Einzigen sind“, resümiert Andrea Wilden.

Regelmäßig gönnt sich die Familie auch ein Wochenende, bei dem die Rheumaliga mit kreativen Angeboten dazu einlädt, Abstand zum Alltag zu schaffen.

Ganz abgefunden hat Andrea Wilden sich dennoch nicht mit der chronischen Erkrankung ihres Sohnes. Was sie sich für ihn wünscht, wenn er erwachsen ist? „Dass er dann kein Rheuma mehr hat oder wenigstens das schwere Medikament nicht mehr nehmen muss.“

Karin Vorländer – LW 44/2012