Auf Salpeterfahrt

Stickstoffdünger kam per Frachtsegler aus Chile

Vor hundert Jahren, am Heiligabend des Jahres 1911, stach von Hamburg aus die neu gebaute Viermastbark „Passat“ zu ihrer ersten Fahrt in See. Ihr Ziel: die Häfen von Valparaiso und Mejillones im nördlichen Chile. Ihre Aufgabe: Stickstoffdünger, der in der Atacama-Wüste aus nitrathaltigem Gestein gewonnen wurde, nach Deutschland zu bringen. Entdeckt hatte man die Vorkommen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Um ihre Ausbeutung war es 1879 sogar zum „Salpeterkrieg“ zwischen Chile, Peru und Bolivien gekommen, mit dessen Ende die Gebiete an Chile fielen, das in den kommenden Jahrzehnten das Weltmonopol für Natronsalpeter (chemisch: Natriumnitrat) hielt. Sieben Monate und neun Tage später, am 2. August 1912, kehrte die Passat zurück. Voll beladen konnte sie über 4 000 Tonnen Chilesalpeter transportieren.

Die Passat, die heute als Museumsschiff in Lübeck-Travemünde liegt, gehörte zum Bautyp der „Flying-P-Liner“: schnelle, schlanke Frachtsegler mit Stahlrumpf, 115 Meter lang, 14 Meter breit. An vier Masten, bis zu 52 Meter hoch, spannte sich eine Segelfläche von 3 800 Quadratmetern. Gebaut wurden die P-Liner von der Werft Blohm & Voss in Hamburg im Auftrag der Reederei Ferdinand Laeisz als „Tiefwassersegler“ für den weltweiten Getreide- und Salpetertransport. „P-Liner“ hießen sie, weil ihre Namen stets mit dem Buchstaben „P“ begannen – andere Schiffe der Serie hießen Pommern, Pinguin, Pamir, Peking oder Priwall. Im Jahr 1913, als die Passat und andere P-Liner in Nord-Süd-Richtung über den Atlantik segelten, brachten die „Salpeterfahrten“ rund um Kap Hoorn etwa 800 000 Tonnen Chilesalpeter nach Deutschland. Aus Chile kam damit die Hälfte aller von der Landwirtschaft verbrauchten stickstoffhaltigen Handelsdünger. Andere Düngerquellen waren in dieser Zeit Ammoniak als Nebenprodukt bei der Gewinnung von Leuchtgas aus Kohle in den Stadtgasanstalten sowie Ammoniumsulfat, das in den Kokereien anfiel. Die deutsche Landwirtschaft verwendete damals etwa 120 000 Tonnen Rein-N im Jahr aus diesen Handelsdüngern. Zum Vergleich: Heute ist es mit etwa 1,5 Mio. Tonnen gut das Zehnfache.

Hohes Risiko, aber enorme Einnahmen

Es war ein Geschäft mit hohem Risiko. Durchschnittlich gingen pro Jahr drei Prozent der Segelschiffe verloren, wobei die stählernen P-Liner als sicher galten. Hier lag die Verlustrate unter einem Prozent. Allerdings versprach das Salpetergeschäft enorme Einnahmen: 1913 kostete im Hamburger Großhandel ein Doppelzentner Chilesalpeter 22 Mark. Der Fracht­wert einer voll beladenen Passat entsprach damit fast einer Million Mark – mit dem Faktor zehn umgerechnet auf heutige Kaufkraft wären das 10 Millionen Euro. Stickstoffdünger war im Vergleich zu heute extrem teuer. Bei einem Stickstoffgehalt von 15,5 Prozent kostete das Kilo Stickstoff im Chilesalpeter damals 1,43 Mark, was umgerechnet auf heutige Kaufkraft 14 Euro pro kg Rein-N wären. Aber: „Deutschland sah sich vorerst vor die Wahl gestellt, entweder Chilesalpeter oder Getreide zu importieren“, schreibt Timo Baumann in seiner Doktorarbeit „Giftgas und Salpeter – Chemische Industrie, Naturwissenschaft und Militär 1906 bis 1914/15“, der auch die Preis- und Mengenangaben zum Salpeter­import entnommen sind. Denn Deutschland konnte sich mit den bestehenden Produktionsmethoden nicht vollständig mit Getreide aus eigener Erzeugung versorgen.

Die Passat hat ihren Ruhehafen gefunden. Den ehemaligen Salpeterfrachter ...

Foto: Michael Schlag

... mit seinem imposanten Steuerrad kann man in Travemünde besichtigen.

Foto: Michael Schlag

Ein Blick in den holzvertäfelten Salon des Kapitäns.

Foto: Michael Schlag

Das Beladen in den chilenischen Salpeterhäfen war umständlich und dauerte Wochen – zu Beginn des Jahrhunderts gab es keine mit heute vergleichbare Hafenlogistik. Der Salpeter wurde in Säcke abgefüllt, auf kleinen „Leichtern“ zu den vor der Küste wartenden Schiffen gebracht und dort Sack für Sack in die Lagerräume verfrachtet.

Durch den Ersten Weltkrieg: jahrelang in Chile interniert

Bereits auf ihrer vierten Salpeterfahrt 1914 aber wurde die Passat, während sie im chileni­schen Salpeterhafen Iquique lag, vom Ausbruch des Ers­ten Weltkriegs überrascht und blieb sieben Jahre in Chile interniert. Denn Salpeter war – im heutigen Sprach­gebrauch – ein „dual-use-product“, er konnte sowohl zivilen als auch militärischen Zwecken dienen. Zwar gingen vor dem Ersten Weltkrieg vier Fünftel der Importe von Chilesalpeter als Dünger in die Landwirtschaft, doch Natriumnitrat war auch ein Rohstoff für die Munitionsindus­trie und fiel unter die britische Seeblocka­de. Erst 1921 wurde die Passat mitsamt ihrer Ladung von 4 700 Tonnen Salpeter von Chile aus als Kriegs-Reparation nach Marseille in Frankreich überführt. 1922 kaufte die Hamburger Reederei Laeisz ihre Passat den Franzosen wieder ab und schickte sie erneut auf Salpeterfahrt nach Chile. Allerdings, in den sieben Jahren, in denen die Passat untätig in Chile fest lag, hatten neue chemische Entwicklungen die Zeiten nachhaltig geändert.

Chemischer Stickstoffdünger verdrängte Salpeternachfrage

Die Salpeterfahrten der Passat rund um Kap Hoorn.

Foto: Michael Schlag

Denn mit dem Abbruch der Ãœberseelieferungen von Salpeter ab 1914 fehlte nicht nur der deutschen Landwirtschaft ihr wichtigster Stickstoffdünger – den Militärs fehlte das Grundmaterial für die Munitionsindus­trie. Diese „Salpeterfrage“ hätte jede längere Kriegsführung zum Erliegen gebracht, weshalb mit Hochdruck an einer Ersatzquelle für Nitrat geforscht wurde: So wurde das bereits erfundene Haber-Bosch-Verfahren zur Synthese von Ammoniak aus Luftstickstoff großtechnisch weiterentwickelt, die BASF-Werke in Ludwigshafen produzierten Ammonium, und im März 1915 gingen die Reichs-Stickstoffwerke Piesteritz in Betrieb. Stickstoffdünger kam zunehmend aus der chemischen Industrie. Die Bedeutung des Salpeters ging zurück. 1913, als die Passat auf dem Atlantik unterwegs war, summierten sich die deutschen Importe von Chilesalpeter noch auf 200 Mio. Mark. Dieses Volumen erreichten sie später nie mehr, und bis 1926 hatten sich die Handelsströme umgedreht: Jetzt war Deutschland zum Exporteur von Stickstoffdünger geworden, und verkaufte synthetische Stickstoffverbindungen für 200 Mio. Mark. Die Passat befuhr bis 1931 noch 15 Mal die Salpeter-Route Hamburg-Chile, dann wurde das Schiff nach Finnland verkauft und war noch 20 Jahre unter finnischer Flagge auf den Weltmeeren unter­wegs, vor allem im Getreideimport aus Australien. Ab 1951 fuhr sie, zusammen mit ihrem Schwes­terschiff „Pamir“, wieder unter deutscher Flagge als „frachtfahren­des Schulschiff“. Das Ende kam 1957: Die Pamir sank mit verrutschter Getreideladung in einem Sturm im Atlantik. Im selben Jahr geriet auch die Passat mit einer Ladung Gerste auf der Heimreise von Montevideo in einen schweren Sturm, musste mit Schlagseite in Lissabon einlaufen und wurde außer Dienst gestellt. 1959 rettete die Stadt Lübeck den traditionsreichen Salpeter-Clipper vor dem Verschrotten. Seit 1960 hat er seinen Liegeplatz in Travemünde.

Mit den stählernen „P-Linern“ verbindet sich eine besondere Nostalgie an vergangene Zeiten der Seefahrt: Es waren die letzten großen Frachtsegler, die allein mit Windkraft die Weltmeere befuhren und in der Konkurrenz mit den Dampfschiffen und später den dieselbetriebenen Frachtern bestanden. Von den insgesamt 65 „Flying-P-Linern“, die zwischen 1891 und 1926 gebaut wurden (zunächst aus Holz, später aus Stahl) haben bis heute, neben der Passat, noch drei weitere überlebt: die „Peking“ (Stapellauf ebenfalls 1911) als Museumsschiff in New York, die „Pommern“ (1903) als schwimmendes Museum in Mariehamn, Finnland. Und ein P-Liner befährt tatsächlich bis heute die Weltmeere: Die „Padua“ (1926) wurde unter dem Namen „Kruzenshtern“ das Schulschiff der russischen Fischereiflotte.

Ein Besuch auf der Passat im Hafen von Travemünde lässt die alten Zeiten noch einmal wach werden. Die hohen Masten, bis in deren Spitzen die Matrosen gestiegen sind, der gediegene Luxus edler Hölzer in den Offiziersräumen und im Salon des Kapitäns, die mannshohen Steuerräder, die Ankerkette, die von Muskelkraft eingerollt wurde – all das letztlich gebaut, um vor hundert Jahren in Deutschland die Getreideerträge zu steigern.

Ferkel mit an Bord

Übrigens führte die Passat auf ihren Fahrten selbst ein Stück Landwirtschaft mit: In einem Stall auf Deck traten stets einige Ferkel die mehrmonatige Tour an, die während der Fahrt gemäs­tet und geschlachtet wurden. Michael Schlag

Ausflugstipp zur Passat

Das Museumsschiff Passat in Travemünde kann während der Hauptsaison im Sommer täglich von 10 bis 17 Uhr besichtigt werden. Der Eintritt kostet für Erwachsene 3 Euro, für Jugendliche bis 18 Jahre 1,50 Euro, Kinder unter 6 Jahren haben freien Eintritt. Zusätzlich werden am Montag, Mittwoch und Freitag um jeweils 11 Uhr Sonderführungen angeboten für Einzelpersonen und Kleingruppen bis 10 Personen. Sie kosten 5 Euro pro Person zuzüglich des normalen Eintrittspreises.

Die Passat liegt im Hafen der Halbinsel Priwall. Die schönste Anfahrt bietet die Personenfähre ab Hafenpromenade Travemünde, die Ãœberfahrt dauert 10 Minuten und kostet 1 Euro. Außerdem besteht eine Autofähre oder die Straßenverbindung über die Halbinsel Priwall. Anfahrt mit der Bahn über die Station „Travemünde-Strand“, von dort 10 Minuten zu Fuß bis zur Fähre. Die Räume der Passat können auch für Feste gemietet werden.In den alten Kajüten kann man übernachten. Insgesamt stehen den Gästen für Klassenfahrten oder Freizeitgruppen bis zu 102 Kojen zur Verfügung.

Mehr Informationen: www.ss-passat.com und www.passat.luebeck.de.M. S.