Ängste machen Kinder stark

Kinder sind oft kreativ, um ihre Ängste zu überwinden

Viele Eltern möchten ihre Kinder am liebsten angstfrei aufwachsen lassen. Aber das ist eine Illusion. „Kinder haben in der Regel mehr und andere Ängste als Erwachsene, denn sie stehen fast täglich vor neuen unbekannten Situationen“, weiß die Psychotherapeutin Gertrud Finger.

Mit dem Schuleintritt taucht oft die Angst vor Leistungsversagen oder Ausgegrenztsein auf. Ist dies überwunden, macht das die Kinder rückblickend stark.

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Schon früh gibt es die Angst des Säuglings, die vertraute Betreuungsperson zu verlieren. Da ist das „Fremdeln“ mit etwa acht Monaten, dann folgt gegebenenfalls Trennungsangst, wenn das Kind lernen muss, sich von Mutter oder Vater oder anderen vertrauten Bezugspersonen zu verabschieden. Zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr macht das Kind die Erfahrung, dass es selbst stark ist, aber auch, dass es noch Stärkere gibt. „Das löst die sogenannte Vernichtungsangst aus“, so Erziehungsberater Jan Uwe Rogge. Um das 4. und 5. Lebensjahr erfahren Kinder die Angst vor dem Tod als Inbegriff des Abschiednehmens und fordern ihre Eltern zu behutsamen aber ehrlichen Antworten he­raus. Besonders das Vorschulalter mit seiner „magischen Phase“ kann von Ängsten vor Monstern, Räubern und anderen Unholden geprägt sein. Mit dem Schuleintritt taucht oft die Angst vor Leistungsversagen oder Ausgegrenztsein auf. Mit der Pubertät kommt es zur Unsicherheit und Angst im Blick auf die erwachende Sexualität, die eigene Identität und den Selbstwert: „Wer bin ich – und bin ich so, wie ich bin, in Ordnung?“ Jugendliche brauchen dann gelassene, ermutigende und gesprächsbereite Eltern.

Vertrauen und Ermutigung

Die Psychotherapeutin Gertraud Finger ist überzeugt: Kinder brauchen solche entwicklungsbedingten Ängste, um stark zu werden. Sie vor allen Ängsten bewahren zu wollen, ist der gesunden Entwicklung keineswegs zuträglich. Denn Kinder haben nicht nur Ängste, sondern sie entwickeln auch überraschende Möglichkeiten, diese Ängste zu überwinden. Das Krokodil unterm Bett raus auf die Wiese zu verbannen, trotz anfänglicher Angst allein beim Kindergeburtstag zu bleiben, jedes Mal ein bisschen näher an den großen Hund heranzugehen und ihn sogar zu streicheln, das stärkt das Selbstbewusstsein. Gut ist, wenn Eltern geduldig ermutigen und dem Kind die Zeit geben, die es braucht. Am besten können Kinder und Jugendliche ihre Ängste überwinden, wenn sie in der Familie in einer Atmosphäre von Wertschätzung, Ermutigung Verlässlichkeit und Wahrhaftigkeit aufwachsen. Sie brauchen das Gefühl: „So wie ich bin, bin ich gut genug – auch wenn ich mal Angst habe.“

Mit Fantasie und Ermutigung gegen die Angst

Der oft leicht dahin gesagte Satz: „Du brauchst doch keine Angst zu haben“, hilft überhaupt nicht. „Das ist ein schrecklicher Satz, denn die Angst ist ja da. Er zeigt den Kindern, dass sie etwas falsch machen oder dumm sind. Das kann dazu führen, dass sie ihre Angst nicht mehr äußern“, betont Gertraud Finger. Aus ihrer Sicht brauchen etwa ängstliche Vorschulkinder fantasievolle Eltern, die den „vernünftigen“ Erwachsenenstandpunkt aufgeben und dem geängstigten Kind seine Wirklichkeit nicht ausreden. Gemeinsam mit dem Staubsauger das Gespenst unterm Bett wegsaugen, ist wirkungsvoller als darauf zu beharren, dass es keine Gespenster gibt. „Wenn das Kind seine Angst nicht äußern darf, wird es eher weiter in die Angst hineingetrieben. Ängstliche Kinder haben oft keine gute Meinung von sich. Zur Gespensterangst kann so die Identitätsangst hinzukommen“, so Gertraud Finger.

„Eltern, sollten zwar Verständnis für die Angst haben, aber sich nicht auf die komplette Vermeidung der angstbesetzten Situation einlassen.“ Gertraud Finger macht Eltern Mut, sich von der Angst ihrer Kinder nicht bestimmen zu lassen. Angst wird bei Kindern genau wie bei Erwachsenen am besten dadurch besiegt, dass man genau das „dosiert“ tut oder wagt, wovor man Angst hat. Nur so wird die Erfahrung möglich: Ich bin stärker als meine Angst. Wer mutig mit der Angst umgeht, wird merken, dass die Angst kleiner wird.

Rituale gegen die Angst

Ein abendliches gemeinsames Lied, eine Vorlesegeschichte, Körperkontakt und Kuscheln, ein Gespräch über das, was heute schön oder schwer war, ein frei formuliertes Gebet oder eine Auswahl von gereimten Gebeten kann Kindern das Gefühl von Stetigkeit, Geborgenheit und Vertrauen vermitteln, das bis in tiefe seelische Schichten reicht und sie stark gegen die Angst macht. Ob religiöse Erziehung und Glaube dazu beitragen, Angst zu überwinden und starke, mitfühlende und dem Leben und dem Leiden gewachsene Kinder ins Leben zu begleiten, das hängt zuallererst vom Gottesbild ab, das in einer Familie vermittelt wird. Wie Glaube und Religion ent-ängstigen oder die Angst nur verstärken, das macht Gertraud Finger an dem einfachen Satz „Gott sieht alles“ deutlich. „Das kann einerseits heißen: „Gott sieht all das, was du vor den anderen verbergen willst.“ Da ist Gott der himmlische strenge Aufpasser, der auch bestraft. Andererseits kann der Satz bedeuten: „Gott ist bei dir. Gott sieht dich in deiner Not. Er hält zu dir, auch wenn es schwer wird“ “, erläutert sie. Wenn Kinder – und erst recht Erwachsene – glauben können, dass sie mit den Augen der Liebe angesehen werden, ist das identitätsbereichernd und stärkt sie. Und starke Menschen, die ihre eigenen Ängste nicht leugnen oder verdrängen und dennoch mit Zuversicht und Vertrauen leben und handeln, brauchen wir, um die Zukunft zu gestalten.

Karin Vorländer – LW 34/2016