Aufforderung zum Dialog

Vertreterinnen der Landfrauen trafen sich in Florstadt

Zwei ernste Themen standen auf dem Programm der Vertreterinnenversammlung des Landfrauenverbandes (LFV) Hessen: „Gewalt gegen Frauen“ und „das Leben muslimischer Frauen in Deutschland“. 450 delegierte Landfrauen kamen dazu vergangene Woche nach Nieder-Florstadt.

Die Präsidentin des Landfrauenverbandes Hessen, Hildegard Schuster (r.), gratulierte Christel Gontrum vom Bezirksverein Gießen, die im Sommer vom Deutschen Landfrauenverband zur Landfrau des Jahres 2016 ausgezeichnet wurde. „Da wo wir sind, ist oben!“, betonten beide auf der Vertreterinnenversammlung.

Foto: Lehmkühler

Mit Blick auf den bevorstehenden Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen am 25. November hatte der LFV Hessen Christine Klein eingeladen. Die Leiterin der regionalen Geschäftsstelle Südhessen des „Netzwerks gegen Gewalt“ und ehrenamtliche Vorsitzende des Vereins Frauenhaus Bergstraße informierte über das häufig totgeschwiegene Thema häusliche Gewalt und ihre Folgen für Frauen, Kinder und die Gesellschaft.

Gewalt gegen Frauen

„Nicht immer, aber meist von Männern ausgeübt, sind Frauen die Opfer der häuslichen Gewalt“, sagte Klein. „Definiert als körperliche, psychische, sexuelle, soziale und finanzielle Gewalt, innerhalb einer Intim- oder Familienbeziehung ausgeübt, hat sie Kontrolle und Machtausübung zum Ziel. Betroffen sind Frauen jeden Alters und aller gesellschaftlichen Schichten.“ Mehr als ein Drittel der deutschen Frauen hätten seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren, etwa die Hälfte kenne psychische Gewalt. Die Dunkelziffer sei noch viel höher. Eindrücklich schilderte Christine Klein den weiten Weg von der Gewalterfahrung bis zur Erkenntnis, Opfer männlicher Gewalt zu sein. „Es ist für Betroffene ein schwerer Schritt, sich dazu zu bekennen und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Und trotzdem können die Frauenhäuser, deren Existenz oft in Frage gestellt wird, die Nachfrage nicht befriedigen. Nur ein Drittel der Hilfe suchenden Frauen mit ihren Kindern können aufgenommen werden. Finanzielle Schwierigkeiten belasten die Arbeit der Frauenhäuser zusätzlich“, so Klein.

Christine Klein ist Geschäftsführerin vom „Netzwerk gegen Gewalt“.

Folgen häuslicher Gewalt seien oft schwere traumatische Störungen der Frauen, aber auch ihrer Kinder, die selbst von der Ausübung von Gewalt betroffen seien oder sie in der Familie miterleben müssten. Die gesellschaftlichen Folgekosten von Männergewalt würden auf circa 15 Mrd. Euro im Jahr geschätzt. Landfrauenpräsidentin Hildegard Schuster informierte, dass der LFV Hessen wie im vergangenen Jahr unter dem Motto „Gewalt kommt nicht in die Tüte“ die hessischen Landfrauenvereine aufruft, anlässlich des Internationalen Tags gegen Gewalt an Frauen ein Zeichen gegen Gewalt zu setzen und auf dieses Problem hinzuweisen. Auf Anforderung stelle der LFV Hessen den Vereinen Materialien und eine Pressemeldung zur Verfügung.

Muslimische Frauen in Deutschland

Ãœber zwei Millionen muslimische Frauen leben in Deutschland, „mitten unter uns und doch bleiben sie uns noch fremd“, sagte Hildegard Schuster. Integra­tion, nicht nebeneinander, sondern miteinander zu leben, setze vo­raus, offen auf „die anderen“ zuzugehen, etwas über sie und ihr Leben zu erfahren. Dies gelte sowohl für die deutschen als auch für die muslimischen Frauen. Diesem Ziel der Vermittlung zwischen den Kulturen hat sich Nil Esra Dagistan, Projektleiterin Integration der Organisation Berufswege für Frauen und Business Coach insbesondere für Migrantinnen, verschrieben. Im Gespräch mit Präsidentin Hildegard Schuster erzählte sie vom Leben muslimischer Frauen in Deutschland und räumte – ganz nebenbei – mit so manchem Vorurteil auf. Nicht der Koran sei für die äußerlich wahrnehmbare Ungleichheit von Frauen und Männern in der islamischen Welt verantwortlich. Die islamische Gesellschaft weise den Männern die Aufgabe des „Außengeschäfts“ und den Frauen die des „Innengeschäfts“, eben Haushalt, Familie und Kindererziehung, zu. Dies führe zu einem von Männern dominierten Bild der islamischen Gesellschaft, das von den Medien – mit Blick auf Auflagen und Einschaltquoten – zusätzlich verstärkt werde.

Ähnlich verhalte es sich mit dem Auftreten muslimischer Frauen in der Öffentlichkeit. Wenn man hierzulande bedauernd feststelle, muslimische Frauen seien ernst und verschlossen, sie wollten wohl keinen Kontakt, müsse man wissen: „In der islamischen Gesellschaft ist das Lächeln in der Öffentlichkeit unschicklich“, erklärte die in einem katholisch geprägten Dorf im Westerwald aufgewachsene Muslima lächelnd, „und das schreibt nicht der Koran vor, das ist eine Tradition“. Auf die Frage, ob der Koran Frauen vorschreibe, sich zu verhüllen, ein Kopftuch oder gar eine Burka oder Niqab zu tragen, erklärte Nil Esra Dagistan, Männern wie Frauen schreibe der Koran vor, sich bedeckt und geziemt zu kleiden und Reize nicht hervorzuheben. Nur etwa ein Drittel der muslimischen Frauen trügen traditionell ein Kopftuch. Erst aufgrund der anhaltenden Diskussion in Deutschland und Europa seien es wieder mehr Frauen geworden, die ein Kopftuch oder eine Burka tragen. „Und sie tun das bewusst. Das Kopftuch ist zu einem politischen Symbol geworden, einem Zeichen des Trotzes und des Widerstands.“ Frauen – und gerade junge muslimische Akademikerinnen – wendeten sich damit gegen das Diktat, es nicht tragen zu dürfen, erklärte sie.

Nil Esra Dagistan (r.) im Interview mit Präsidentin Hildegard Schuster. Die in Deutschland lebende Muslima arbeitet als Projektleiterin für Integration beim Verein „Berufswege für Frauen“ in Wiesbaden.

Nil Esra Dagistan rief zu einem offenen und wertschätzenden Dialog christlicher und muslimischer Frauen auf. Gelegenheiten dazu gebe es viele und die ließen sich auch schaffen. „Fragen Sie muslimische Frauen, wie sie leben! Und erklären Sie, wie Sie leben und warum! Nur so gelingt es, Stereotypen aufzulösen und gegenseitiges Verständnis zu entwickeln.“ „Solche Brückenbauerinnen wie Sie brauchen wir“, freute sich die Landfrauenpräsidentin über den aufklärenden Vortrag. In einem Rück- sowie Ausblick stellten Hildegard Schuster und ihr Vor­standsteam der Versammlung die vielfältige Arbeit des Lan­desvorstandes vor. „Es ist wichtig, dass jede Landfrau weiß, warum sie im Landfrauenverband ist und was wir gemeinsam alles auf die Beine stellen!“, erklärte Schuster ihren umfangreichen Bericht. In ihren Grußworten lobten die Redner das vielseitige Engagement der Landfrauen. Es sprachen Dr. Jutta Pauli, Mitglied des Vorstandes des Hessischen Frauenrates, Anna Hesse, Frauenbeauftragte des Landkreises Kassel, Armin Müller, Vizepräsident des Hessischen Bauernverbandes, und Lars Döppner, Vorsitzender der Hessischen Landjugend.

Nachfolgerin für „Landfrau Ilse“

Bevor die 1. stellvertretende Vorsitzende Gudrun Stumpf allen für die engagierte Teilnahme an der Versammlung dankte, nutzte Maria Beck, Redakteurin beim Hessischen Fernsehen für die Sendung „Das Dings vom Dach“, die Gelegenheit, unter den Landfrauen eine Nachfolgerin für „Landfrau Ilse“ zu suchen. Zwölf Jahre erklärte Ilse Ruckelshaußen, 20 Jahre Vorsitzende des Landfrauenvereins Crum­stadt, in der Sendung große und kleine Dinge in jeweils einer wahren und einer erfundenen Version. Jetzt setzt sie sich zur Ruhe. „Gesucht ist eine Landfrau, gerne 50plus, die sich vor der Kamera wohlfühlt und, das ist Voraus­setzung, hessisch babbeln kann“, ermunterte Beck potenzielle Kandidatinnen. Interessierte können sich bis zum 18. November in der Landesgeschäftsstelle melden.

SL – LW 45/2016