Auswendiglernen ist pure Fitness für das Gehirn
So klappt's auch mit der Weihnachtsmaus
Früher lernten Kinder oft Weihnachtsgedichte auswendig, die sie am Heiligabend mit leuchtenden Augen unter dem Tannenbaum aufsagten. Mittlerweile ist diese schöne Tradition zunehmend in Vergessenheit geraten. Zu Unrecht, wie Lernexperte Prof. Dr. Martin Schuster findet. Er sagt: „Auswendiglernen ist pure Fitness fürs Gehirn.“ Also, warum tun wir es nicht mal wieder? Das bevorstehende Fest wäre eine tolle Gelegenheit. Nachfolgend gibt es Tipps dafür.
In Zeiten von Internet, Computer und Handy mag das Auswendiglernen von Gedichten oder mehreren Strophen eines Liedtextes antiquiert erscheinen. Man kann ja die Suchmaschinen im Internet nutzen und dann die gewünschten Texte bequem vom Smartphone oder PC ablesen.Beim Weihnachtsgottesdienst gibt es alle Jahre wieder die altbekannten Liedtexte von „O Tannenbaum“ bis „Stille Nacht“ auf einem Blatt zum Mitsingen. Wozu also die grauen Zellen in Schwung bringen und alle Strophen mühsam auswendig lernen? „Weil es Fähigkeiten trainiert, die wir auch beim Denken einsetzen“, bringt es Diplom-Psychologe und Fachbuchautor Schuster auf den Punkt. Bis zu seiner Pensionierung war er Professor an der Universität Köln und beschäftigte sich unter anderem mit Lernmethoden und der Lern- und GedächtnisÂpsychologie.
„Wenn wir das, was wir früher einmal gelernt haben, wie Gedichte oder Liedtexte, nicht hin und wieder abrufen, geht es unwiederbringlich verloren.“ Es sei zu beachten, dass das Gedächtnis an vielen Denkprozessen aktiv beteiligt sei. „Ab und an, natürlich in Maßen und ohne Drill, etwas auswendig zu lernen, macht Freude und ist eine gute Methode, das Gedächtnis fit zu halten“, ist Schuster überzeugt. Irrigen Annahmen, dass man ganz ohne Anstrengung etwas lernen und behalten könne, erteilt er allerdings eine Absage. „Es hilft nicht, ein Buch unter das Kopfkissen zu legen. Ebenso schlagen Versuche fehl, im Schlaf zu lernen, indem man derweil Texte von einem Tonträger abspielt.“
Gedächtnis ist nützlich
Sich bestimmte Dinge einzuprägen, daran komme man auch im Internetzeitalter nicht vorbei. Es gebe immer noch Situationen, in denen wir uns auf unsere Merkfähigkeit verlassen müssten, ob beim Halten eines Referats oder bei Inhalten, die aus Sicherheitsgründen nicht aufgeschrieben werden sollten wie Geheimzahlen, Passwörter oder Zugangscodes. „Auch wenn wir ein Examen oder eine Prüfung ablegen, den Führerschein machen oder eine berufliche Qualifikation erlangen wollen, müssen wir vorher bestimmte Fakten im Kopf gespeichert haben.“ Ebenfalls gehe es beim Erlernen einer Fremdsprache nicht ohne das teilweise ungeliebte Vokabellernen ab. „Vokabeln müssen während einer Kommunikation sofort zur Verfügung stehen. So schnell wie sie benötigt werden, kann man sie gar nicht nachschlagen. Da heißt es pauken.“
Ein Blick in die Historie zeigt, dass Menschen vor Einführung des Buchdrucks unbedingt auf das gute Funktionieren des eigenen Gedächtnisses angewiesen waren. „Früher konnte man nicht alles in Lexika nachschlagen oder im Internet suchen. Weltweit setzten die verschiedenen Kulturen deshalb auf das Auswendiglernen. Zum Beispiel sollte der Koran gerade nicht verschriftlicht, sondern auswendig zitiert werden“, erklärt der Lernexperte. Nur so hätten die Gläubigen damals die Chance gehabt, die heiligen Texte in ihrem Inneren stets abrufbar zu bewahren. Aber gleichfalls Christen sollten wichtige Gebete und Texte wie das Vaterunser, das Glaubensbekenntnis oder den Katechismus auswendig lernen. „Diese konnten und können in Lebenskrisen einen stärkenden und stabilisierenden Effekt auf die Menschen haben. Das Rezitieren kann ihnen in kritischen Lebenslagen Trost spenden, wenn nichts anderes als das Gebet mehr bleibt“, merkt Schuster an. In der Renaissance und der Zeit der Bewunderung antiker, griechischer und römischer Autoren lernten die Gelehrten viele Zitate berühmter Philosophen auswendig. Für die weisen Männer war dies ein bedeutender und anerkannter Teil ihres Wissensreservoirs. Die traditionellen Volksmärchen, die die Gebrüder Grimm bei ihren Reisen durchs Land sammelten, wurden mündlich von Generation zu Generation überliefert und erst nachträglich in Papierform gebracht.
Probe aufs Exempel
Warum tun sich also heutzutage etliche kleine und große Menschen mit dem Auswendiglernen so schwer? „Vielleicht, weil ihnen nur das Wissen um die richtige Lerntechnik fehlt. Wenn sie diese kennen und dann voll motiviert und positiv gestimmt ans Werk gehen, kann nichts mehr schief gehen“, ermuntert der Professor. Im Sachbuch „Lernen zu lernen“, das im vorigen Jahr bereits in zehnter Auflage erschienen ist, stellt er die effektivsten Lernmethoden ausführlich vor. Da diesbezügliche Ausführungen hier den Rahmen sprengen würde, will er stattdessen anhand des bekannten Kindergedichts „Die Weihnachtsmaus“ von James Krüss (1926 bis 1997) einige Tipps geben, wie es gelingen könnte, sich die einzelnen Strophen – immerhin 14 mit je vier Zeilen – einzuprägen. Sie erinnern sich? Da heißt es beim Dichter: „Die Weihnachtsmaus ist sonderbar (sogar für die Gelehrten), denn einmal nur im ganzen Jahr entdeckt man ihre Fährten.“
Schuster rät, sich den Text zunächst auszudrucken und einmal laut und deutlich vorzulesen. Wovon erzählt das Gedicht? Für das Auswendiglernen ist es von Nutzen, wenn man verstanden hat, worum es geht. Sind Worte enthalten, die man nicht kennt oder versteht, empfiehlt es sich, diese nachzuschlagen. Eventuell kann man in eigenen (Stich-)Worten eine kleine Zusammenfassung des Inhalts machen. Einige lernen zudem gut, wenn sie das Gedicht einmal von Hand abschreiben und/oder sich den Inhalt ganz bildhaft und lebendig vor ihrem inneren Auge vorstellen. Das baut Eselsbrücken. Nun geht man daran, die Zeilen abzudecken und dabei nur die ersten Worte einer jeden Zeile sichtbar stehenzulassen.
Wiederholen hilft
Klappt es anhand der übriggebliebenen Worte auf die gesamte Zeile zu schließen? Falls noch nicht, übt man mehrmals, bis man die Zeile mithilfe der ersten Worte flüssig wiederholen kann. Danach lässt man nur noch das erste Wort jeder zweiten Zeile stehen und versucht, mit Blick auf das erste Wort zwei Zeilen gleichzeitig zu reproduzieren. Anschließend lässt man bei jedem gelungenen Reproduktionsdurchgang immer mehr vom Text weg, bis man schließlich das Gedicht, ohne auf das Blatt zu schauen, aufsagen kann.
Diese Vorgehensweise gilt für Kinder und Erwachsene gleichermaßen, wenn auch Kindern das Auswendiglernen erfahrungsgemäß leichter fallen wird, so Schuster. Zum Abschluss könne das Aufsagen selbst geprobt werden. Dabei sei es wichtig, auf die passende Betonung sowie auf Mimik und Gestik zu achten. Lernpsychologen fanden übrigens heraus, dass ebenso die Uhrzeit beim erfolgreichen Lernen eine Rolle spielt. „Das Maximum der Leistungsfähigkeit kann zwar je nach Person variieren, liegt aber bei den meisten am Vormittag in der Zeit von 8 bis 10 Uhr. Ein erster Tiefpunkt wird zwischen 14 und 15 Uhr erreicht, eine zweite Spitze gegen 17 Uhr. Von da ab gibt es einen kontinuierlichen Rückgang.“
Seelenkraft der Reime
Allen, die nun Lust bekommen haben, es mit dem Auswendiglernen eines Gedichtes zu versuchen, möchte Schuster mit auf den Weg geben, dass damit ein wunderbares Gefühl von Glück und Zufriedenheit verbunden sein kann. „Ein Gedicht hat zudem die Kraft, die Seele anzurühren, den Klang der Sprache hörbar zu machen und einen Augenblick des Innehaltens zu schenken“, resümiert er.
Silke Bromm-Krieger – LW 49/2021