Mit dem Boot zum Botanischen Garten

Bericht über die Brissago-Inseln im Lago Maggiore

„Die Leute hier suchen den Süden, das Mittelmeer,“ sagt Guido Maspoli, Direktor des Botanischen Gartens des Schweizer Kantons Tessin auf den „Isole di Brissago“ im nördlichen Lago Maggiore. Wenngleich, das Mittelmeer ist noch fern. Es sind noch 250 Straßenkilometer bis zur Küste im Süden, und doch bietet der „Parco botanico“ auf der größeren der beiden Inseln eine subtropische Pflanzengesellschaft, die man so weit im Norden sonst nirgendwo im Freiland findet. LW-Autor Michael Schlag berichtet.

Guido Maspoli, Direktor des Botani­schen Gartens auf den Brissago-Inseln.

Foto: Michael Schlag

„Das Besondere ist das Klima der Inseln“, sagt Guido Maspoli. Sie liegen auf 200 Metern Höhe am Südhang der Alpen in der italienisch sprachigen Schweiz, geschützt vor der Kälte des Nordens, eingebettet in den See als Wärmespeicher. So entsteht an diesem Fleck ein außergewöhnliches Mikroklima, in dem selbst im vergangenen Kältewinter 2010/11 die Temperatur nicht tiefer als Minus zwei Grad fiel, und auch dies nicht als Dauerfrost, sondern nur wenige Stunden als Minimumtemperatur der Nacht. Im Durchschnitt erleben die Inseln nur zwei Frosttage im Jahr. Zusammen mit gut 2 000 Millimetern Niederschlag pro Jahr – vor allem im April/Mai und im Oktober/November – und ohne ausgeprägte Trockenzeit wie am Mittelmeer, bilden die Brissago-Inseln das Klima der feuchten Subtropen ab.

Daraus entstand eine wohl einzigartige Idee für einen Botani­schen Garten: Wie wäre es, man versammelte hier auf dem 46. Grad nördlicher Breite, Pflanzen aus viel südlicher gelegenen Regionen der Welt, wo das gleiche feucht-subtropische Klima herrscht? Heute bieten die 2,5 Hektar der „Isola grande“ einen geo-botanischen Ãœberblick der Vegetationen von den Westküsten Amerikas mit Kalifornien und Chile, der Region um das Schwarze und Kaspische Meer, dem subtropischen Ostasien mit Süd-Ost-China, Korea und dem südlichen Japan und mit den Blumen und Bäumen der Südhalbkugel in Südafrika, Süd-Ost-Australien und Neuseeland. In all diesen Weltregionen haben sich – trotz gleichem Klima – im Laufe der Evolution vollkommen unterschiedliche Pflanzen entwickelt.

Kalifornischer Lorbeer und taiwanesische Bananen

„In wenigen Stunden kann man hier die Welt entdecken“, heißt es in dem handlichen Parkführer, der den Besucher, der systematisch vorgehen will, durch die verschiedenen Abteilungen zu 60 ausgewählten Pflanzengruppen führt und sie mit kurzen Anmerkungen vorstellt. Der Rundgang, er dauert anderthalb bis zwei Stunden, beginnt mit den jetzt im Frühjahr auffälligsten Spezies, wie ein schon sattgrüner Bambus, rosa und weiß blühende Magnolien und frei wachsende rote japanische Kamelien (Camellia japonica), die hierzulande als Kübelpflanzen ein geschütztes Winterquartier brauchen. Wenig weiter begegnet man dem kalifornischen Lorbeer, eine der selteneren Pflanzen des Gartens, und einem Beet mit fleischfressenden Pflanzen aus Nordamerika, Südafrika und Neuseeland, die in unseren Breiten nur im Gewächshaus gedeihen würden. Auf einer Rasenfläche stehen Bananen, es ist eine Variante von den Ryukyu-Inseln, der Inselkette zwischen Japan und Taiwan, die auch auf der viel weiter nördlich gelegenen Brissago-Insel im Lago Maggiore ganzjährig im Freien gedeiht. Im Winter friert zwar der oberirdische Teil ab, deshalb wirken sie jetzt im April noch etwas zerzaust, sie treiben aber in jedem Frühjahr neu aus. Die Früchte der Ryukyu-Bananen sind nicht essbar, sie enthalten aber, anders als Speisebananen, keimfähige Samen. Etwas weiter strahlen im April gelb blühende Akazienbüsche, andernorts überstehen sie selten einen strengen Winter. Es sind echte Akazien aus Tasmanien, nicht zu verwechseln mit den Mimosen und ihren ganz ähnlichen Fiederblättern. Die Mimosen stammen aus Südamerika und blühen nie gelb, sondern weiß oder lila. Akazien sind mittlerweile ausgewildert, man findet sie gelb blühend rund um den Lago Maggiore. „Wenn eine Pflanze blüht, geht es ihr gut,“ sagt Biologe Mas­poli. Im Mai folgen im „Parco botanico“ Dahlien, Zistrosen, der südafrikanische Zuckerbusch, im Juni blühen Teebaum, Drachenwurz, Kängurublume und viele andere. „Blüten haben wir die ganze Saison“, sagt Maspoli, später im Jahr sind es aber kleinere, unscheinbare Blüten und „man muss genauer hinsehen.“ Im Spätsommer übrigens meldet sich noch einmal die Kamelie, jetzt aber nicht die üppige japanische, sondern ihre chinesische Schwester (Camellia sinensis), besser bekannt als Teestrauch aus den regenfeuchten subtropischen Zonen von Südost-China, Assam und Nord-Birma.

„Blüten sind wichtig für einen Botanischen Garten“, weiß der Direktor, die Besucher erwarten Formen und Farben. Die Beete werden aber nicht, wie in einem Park, mehrmals im Jahr umgepflanzt, damit immer etwas blüht. „Das ist nicht unsere Idee,“ sagt Maspoli, sondern „die Leute sollen auf kleiner Fläche die Struktur der Vegetation erleben.“ Deshalb werden hier auch keine Züchtungen gepflanzt, sondern ausschließlich natürliche Arten. Das ist in dieser geografischen Höhe einmalig: die ganzjährige Freilandkultur von 1 700 Pflanzen aus subtropischen Ländern – und gleichzeitig der Blick auf die umliegenden und im Frühjahr noch schneebedeckten Berge des Tessin.

Schattiger Hain mit Hanfpalmen

Wer den Wegen auf der Insel weiter folgt, den umfängt an einem heißen Tag unvermittelt eine angenehme Kühle. Dann hat der Besucher die Abteilung für Farne in einem schattigen Hain von Hanfpalmen (Trachycarpus fortunei) erreicht, denn „wir wollen auch, dass die Leute einmal wie im Urwald gehen“. Die frostharte Hanfpalme wird in ihrer Heimat China als Faserpflanze kultiviert. 1850 wurde sie zum ersten Mal nach Europa eingeführt und hat sich, ähnlich wie die echte Akazie, mittlerweile am Südhang der Alpen im Freiland ausgebreitet. Man nennt sie deshalb auch „Tessinerpalme“. Eine Rarität in der Farnsammlung ist die „Dicksonia antarctica“, ein leicht mit einer Palme zu verwechselnder Baumfarn aus Tasmanien.

Kühle und Schatten findet man an Hitzetagen auch im Bambus­hain des Botanischen Gartens. Er kultiviert insgesamt 40 verschiedene Arten von Bambus. Im Sommer wachsen sie bis zu 30 Zentimeter an einem Tag.

Südafrikapflanzen im Tessin

Nicht verpassen darf man die südafrikanische Abteilung am spitz zulaufenden Ende der Insel. Hier blühen im Frühjahr und Sommer Gerbera und Watsonia, Fackellilien, Löwenschweif und die Königsprotea (Protea cynaroides), die Nationalblume von Südafrika. „Die Pflanzen aus Südafrika, die auf den Brissago-Inseln im Freien kultiviert werden, sind die weltweit nördlichsten Exemplare“, berichtet der Parkführer. Proteaceen gehören zu den Silberbaumgewächsen, die sonst nur auf der Südhalbkugel vorkommen.

Die Idee, aus dem begünstigten Klima der Brissago-Inseln etwas botanisch Besonderes zu machen, entstand schon Ende des 19. Jahrhunderts. 1885 kaufte die Baronin Antonietta de Saint Leger die Inseln, ließ mit Booten Erdreich und Mist auf die Isola Grande schaffen, und richtete den ersten Park mit exotischen Pflanzen und botanischen Raritäten ein, die sie über 40 Jahre pflegte. 1927 verkaufte sie die Inseln an den Hamburger Kaufmann Max Emden. Er baute den Park auf der Insel aus und errichtete eine pompöse Villa, die heute die Verwaltung und ein Res­taurant beherbergt. 1949, neun Jahre nach dem Tod von Max Emden, übernahmen der Kanton Tessin, die drei auf dem Festland gegenüber liegenden Gemeinden Ascona, Ronco sopra Ascona und Brissago gemeinsam mit dem Schweizer Heimatschutzbund und dem Naturschutzbund Pro Natura die Inseln zum Preis von 600 000 Franken. Die Hälfte trug der Kanton Tessin. Die Ãœbereinkunft legt fest, dass die Inseln fortan dazu bestimmt sein sollten, die Naturschönheiten zu kulturellen, wissenschaftlichen und touristischen Zwecken zu bewahren. Festgelegt wurde demnach auch, die bestehende Flora des Inselparks weiterzuentwickeln. 1949 fanden sich erst 250 verschiedene exotische Arten auf der Insel, heute sind es insgesamt 1 700. Später bekam jede der Inseln eine klare Funktion: Auf den 2,5 Hektar der Isola Grande werden nur exotische Pflanzen gehegt, die 0,8 Hektar der kleinen Insel (Isolino) überließ man als Schutzgebiet der natürlichen Vegetation. Am 2. April 1950 öffnete der Botanische Garten zum ersten Mal für Besucher. Jede der Inseln hat neben ihrem offiziellen Namen übrigens noch eine zweite, traditionelle Bezeichnung, sie gehen auf Kirchengründungen etwa aus dem 13. Jahrhundert zurück: Die Isola Grande wird danach auch St. Pankratius genannt, die kleine Insel auch St. Apollinarius.

Der Weg führt vorbei an einer Rasenfläche mit Bananen von den Ryukyu-Inseln.

Foto: Michael Schlag

Der Rundgang dauert rund zwei Stunden und beginnt mit einem Bambunshain.

Foto: Michael Schlag

Die größere der beiden Brissago-Inseln, die Grande Isola oder auch San Pankratius genannt, beherbergt den einzigartigen botanischen Garten.

Foto: Michael Schlag

Der älteste Baum, der noch auf die Gründung durch die Baronin Saint Leger zurückgeht, ist der Eukalyptus-Baum in der Mitte des Gartens, ein typischer Vertreter der australischen Flora. Es ist mit 32 Metern der höchste Baum auf der Insel und hat alle kalten Winter der vergangenen 120 Jahre überstanden – auf dieser nördlichen Breite wohl nur hier möglich. Wenig weiter steht die zweitgrößte Pflanze des Botanischen Gartens, ein 30 Meter hoher Ur-Mammutbaum (Meta-Sequoia), gepflanzt im Gründungsjahr 1950. Dieser Nadelbaum, der wie die Lärche im Winter seine Nadeln abwirft, galt lange als ausgestorben und wurde erst 1941 in West-China wiederentdeckt. Heute kommen neue Pflanzen – zurzeit wird die Abteilung für Kalifornien und Chile ausgebaut – als Samen von anderen Botanischen Gärten weltweit.

Versuche zur Bekämpfung eines Gehölze-Schadpilzes

In kleinerem Umfang beteiligt sich der Botanische Garten auf den Brissago-Inseln auch an landwirtschaftlicher Forschung. An zwei Stellen sind Beete mit Erdbeeren in Reihen angelegt. Gemeinsam mit der eidgenössischen Forschungsanstalt Changins-Wädenswil und dem Agrarinstitut San Michele (Italien) sucht Guido Maspoli nach einer Methode zur biologischen Bekämpfung des Goldgelben Hallimasch, ein Schadpilz, der Gehölze angreift. „Wir haben viele Bäume durch Hallimasch verloren“, sagt der Biologe. Im vergangenen Jahr begannen deshalb Versuche, den Pilz durch einen natürlichen Feind, den Schlauchpilz Trichoderma, zu verdrängen. Die Versuchsbeete wurden mit Trichoderma-Sporen geimpft, jetzt werden verschiede­ne Düngungsvarianten erprobt, etwa mit Krabbenschalen, deren Chitin Trichoderma als Nährstoff verwertet. Die Erdbeeren dienen dabei als Zeigerpflanzen, denn auch sie reagieren empfindlich auf Hallimasch. An Stellen, wo die Erdbeeren gut gedeihen, hat Trichoderma die Hallimasch-Sporen tatsächlich unterdrückt.

Von der Schiffsanfahrt bis zur Ãœbernachtung

100 000 Besucher kommen jedes Jahr zum Botanischen Garten, seine Lage auf der Insel sei als Ausflugsziel – zu erreichen nur per Schiff – eben sehr attraktiv, sagt Direktor Guido Maspoli. Der Eintritt kostet (umgerechnet aus Schweizer Franken) für Erwachsene 6 Euro, für Kinder 1,90 Euro und eine Familienkarte 15 Euro. Geführte Besichtigungen werden in den Monaten Mai bis August an jedem Dienstag um 11:30 Uhr angeboten. Sie kosten umgerechnet 11 Euro pro Person, der Eintritt ist darin enthalten. Der Garten ist geöffnet von Ende März bis Ende Oktober, täglich von 9 bis 18 Uhr. Von der Anlegestelle Porto Ronco fahren fast stündlich Boote zur Insel. Die Ãœberfahrt dauert etwa 10 Minuten und kostet 3,40 Euro pro Person. Ein Besuch auf der Insel lässt sich auch gut mit einem Schiffsausflug auf dem Lago Maggiore verbinden. Zwischen Locarno, Ascona und Brissago legen die meisten Ausflugsschiffe hier einen Halt ein. Es bestehen gute Bahnverbindungen zwischen Frankfurt und Locarno über Basel oder Zürich; Fahrtzeit etwa sieben Stunden. Ab Bahnhof Locarno mit der Buslinie 316 Richtung Brissago. Die Haltestelle „Porto Ronco Posta“ liegt direkt neben der Schiffsanlegestelle.

Zurzeit wird die Villa des Kaufmanns Max Emden aus dem Jahr 1927 renoviert und mit neuen Funktionen ausgebaut. Künftig wird es möglich sein, auf der Insel Seminare abzuhalten und dort auch zu übernachten (ab acht Personen). Informationen, auch auf Deutsch, gibt die Website des Botanischen Gartens: www.isoledibrissago.ch.Michael Schlag