Charme und Schönheit des Alltäglichen

Den Alltag immer wichtig nehmen!

Mit Beginn des Jahres, wenn die dicht aufeinanderfolgenden Festtage von Weihnachten und Jahreswende vorüber sind, hat er uns wieder: der Alltag. Und der hat bei den meisten Menschen überhaupt keinen guten Ruf. Der Alltag kommt oft schlecht weg bei uns: Wir sprechen vom „grauen Alltag“, vom „Alltagseinerlei“, vom „Alltagstrott“. Diese Bezeichnun­gen ist im Grunde nicht gerechtfertigt: Alle Tage aufstehen, arbeiten, essen, alle Tage am gleichen Ort, alle Tage dieselben Gesichter, das muss nicht langweilig, öde und trist sein. Alltag kann gut tun. Denn wir leben nicht von Höhenflügen und Höhepunkten. Das Sich-Verlieren im Unterhaltsamen und die ständige Jagd nach Abwechslung und immer neuen Erlebnissen kann rast- und ruhelos machen. Auf der Flucht vor dem Alltag ist man am Ende nirgendwo zu Hause und kommt nicht bei sich selbst an. Ohne Alltag geraten wir schnell außer uns.

Neues Jahr – neue Organisation. Wer sich dabei immer wieder darauf besinnt, dass jeder Tag ein Geschenk ist, wird gut organisieren können.

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„Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von Feiertagen“, hörte man hier und da. Ein Highlight nach dem anderen, das ist wie jeden Tag Sahnetorte und Festtagsbraten. Das kriegt man über. Feier- und Festtage, Höhepunkte und Höhenflüge haben nicht nur ein Ende, sie dürfen auch ein Ende haben.

Zurück in den Alltag kommen

Dass wir uns auf das Vertraute, auf das Normale, eben auf den Alltag freuen, das merken wir womöglich erst, wenn dieser Alltag plötzlich ausfällt. Wir machen diese Erfahrung etwa bei einem Krankenhausaufenthalt oder dann, wenn wir uns unfreiwillig für längere Zeit an einem Ort aufhalten müssen, der nicht unser Zuhause ist. Plötzlich erscheint uns der vertraute heimatliche und häusliche Alltag als lebens- und erstrebenswert und wir sehnen uns nach ihm und dem, was unser Leben alle Tage trägt und prägt. Wir wären mit so Wenigem zufrieden, wenn „uns bloß der Alltag wieder hätte“. Aber wenn der vorher ersehnte Alltag wieder da ist, wird er, je länger er anhält, zunehmend in ein schlechtes Licht gestellt. Alltag eben. „Wie gehts?“ – „Es muss.“

Aber wäre es nicht geradezu töricht, wenn wir den Alltag zum schlechteren Teil unseres Lebens erklärten? Denn meistens ist Alltag. Das Verhältnis ist 6 zu 1: Sechs Tage Alltag, ein Tag Sonntag. Und womöglich ein paar Tage Urlaub, die wir der nicht enden wollenden Arbeit auf dem Hof abtrotzen.

Was kann helfen, den Charme und die Schönheit des Alltags zu entdecken und ihn so zu gestalten, dass auch der Alltag als schön erlebt wird?

Alltagszufriedenheit schätzen lernen

Charme und Schönheit des Alltäglichen, das ist zu allererst die Lebenskunst der Dankbarkeit in kleinen Dingen. Beispiel: Wocheneinkauf. Es hat keine Generation vor uns gegeben, die aus einer solchen Fülle schöpfen konnte. Selbst bei knappem Budget sind die meisten Menschen hierzulande von solchem Segen nicht rundweg ausgeschlossen. Jeder sechste Weltbürger kann von solchen paradiesischen Verhältnissen nicht einmal träumen. Und es ist nicht unser Verdienst, dass wir hier und heute leben. Das haben wir uns nicht ausgesucht, das ist uns zugefallen. Könnte dieser Zufall nicht dankbar und demütig zugleich machen? Sind wir es den Armen nicht geradezu schuldig, „alltagszufrieden“ zu sein? Die Güter des Alltags sollten wir dankbar genießen. Die Armen auf der Welt möchten von uns nicht zu hören bekommen: „Wir sind zwar nicht arm, aber unser Leben ist langweilig und öde, weil es so alltäglich ist.“

Im Heute leben

Warum im Alltag nicht auch mal was Neues ausprobieren – zum Beispiel eine neue Musik zum Mitsingen!

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Den Alltag schätzen lernen, könnte auch heißen: Wir entdecken, wie kostbar und zerbrechlich das Leben ist. Dieser All-Tag ist der erste Tag vom Rest unseres Lebens. Ein Tag, an dem wir leben dürfen. Dieser einmalige Tag ist es wert, dass wir ihn nicht gering schätzen. Was wir heute tun oder lassen, gehört unverlierbar zu unserem Lebensschatz. Dieser Tag ist es wert, dass wir ihn nicht nur hinter uns bringen. Wie wäre es, ihn am Morgen bewusst zu begrüßen? Bewusst aus dem Fenster und in den Spiegel zu schauen?

So im Heute zu leben, könnte auch heißen: Ich hänge nicht in der Vergangenheit herum und flüchte nicht ins Morgen. Denn weder über die Vergangenheit noch über die Zukunft kann ich im Mindesten verfügen! Das Vergangene entzieht sich meiner nachträglichen Beeinflussung; und das Zukünftige ist für unsere vielen Wünsche wie auch unsere vielen Sorgen stocktaub.

Das eigene Leben bewohnen – Alltagsrituale schaffen

Der Alltag mit seiner Vorhersehbarkeit lässt uns in unserem eigenen Leben Platz nehmen und macht das Leben bewohnbar. Wer im Alltag angekommen ist, kann sich „erden“ und den eigenen Ort finden. Und dabei geht es um mehr als den Ort, an dem wir arbeiten und leben. Es geht um das Bewohnen des eigenen Alltags und die Beheimatung im eigenen Dasein. Es gibt die eigentümliche Schönheit einer verlässlichen Form, einer guten Ordnung und eines eingeübten Rhythmus. Alltagsrituale können helfen, den Tag, die Woche und das Jahr zu gestalten. Dies können sein: die bewusst genossene Tasse Kaffee oder Tee am Vormittag, die kleine Pause nach dem Mittagessen, der abendliche abschließende Spaziergang, die einzelne Rose und die Kerze auf dem Tisch zum Wochenausklang, die Brötchen am Samstagmorgen oder der Sonntag, an dem Zeit zum Durchatmen ist. Jeder hat andere Gewohnheiten, in jeder Familie gibt es andere gute Sitten, die dem Alltag Struktur und Glanz geben können.

Dabei sind die beiden Fragen: „Was bin ich mir wert?“ und „Was ist mir der Alltag wert?“ ein Zwillingspaar. Bin ich es mir wert, alle Tage achtsam zu gestalten und Gutes und Staunenswertes zu entdecken? Den Alltag würdigen, das könnte heißen: sich in der Kunst zu üben, dem eigenen Leben einen stillen Glanz zu verleihen und mit dem Alltag so liebevoll gestaltend und formend umzugehen, wie das ein Kunsthandwerker bei seinem Werk tut. Dabei ist es mit dem vertrauten Alltagsrhythmus wie in der Musik: Lebendig wird sie durch überraschende Pausen, Taktwechsel und Synkopen. Auch die Melodie des Alltags braucht die Ausnahme von der Regel, damit sie klingt.

Der Langeweile das Handwerk legen – bei sich selbst ankommen

Wenn man sich langweilt, sobald weder die Arbeit ruft noch das Unterhaltsame lockt, findet man sich selbst offenbar ausgesprochen langweilig. In solchen Fällen kann folgende Ãœbung Wunder wirken. Laden Sie sich dazu ein, immer dann, wenn Sie den Alltag „zum Weglaufen“ empfinden, sich für eine halbe Stunde auf einen Stuhl zu setzen, in aufrechter, achtsamer Haltung – ohne Radio, ohne Fernseher – auf den eigenen Atem zu achten und sich dem „puren Dasein“ zuzuwenden. „Ich bin da – nichts fehlt! Ich kehre ein bei mir, beim Leben selbst. Ich setze mich einfach still hin – und komme bei mir an. Ich werde mir selbst zur Heimat, zu einem geliebten und liebenswerten Platz im Universum.“ Es versetzt der Langeweile den Todesstoß, wenn sie mitbekommt: Wer in der Lage ist, dort Einkehr zu halten, wo gar nichts los ist, bei dem hat soeben ein Fest begonnen.

Wenn aber der Alltag weh tut

Wer krank ist, lässt sich gerne etwas vorlesen – egal in welchem Alter.

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Aber hat die Lebenskunst, im Alltag präsent zu sein und ihm eine festliche Dimension abzugewinnen, nicht dort ihre Grenze, wo sich Leid oder Krankheit oder ein schwieriges Schicksal einstellen? Etwas, das man sich nicht gewünscht hat, das belas­tend schmerzvoll und mühselig ist? Wenn sich das Widrige einstellt, muss man manchmal regelrecht ein wenig „feierlich“ werden. Dies kann man ähnlich umsorgend umsetzen wie bei kleinen Kinder, die krank sind. Sie kommen auf einmal in den Genuss von ein paar schönen Dingen, die es sonst nicht gibt: zum Beispiel Plätzchen und heißen Tee, kalte Wickel und eine extra lange Geschichte, die vorgelesen wird.

Wenn schwere Tage kommen, muss man wieder lernen, feierlich mit dem Leben umzugehen, wo das Leben jetzt gerade dermaßen zerbrechlich und empfindlich ist. Dazu gehört, sich von allem Ballast, auch vom Terminballast, zu lösen. Viele Menschen erfahren ihr Leben deshalb als unbewohnbar, weil sie sich chronisch überfordern.

Es gibt den krank machenden Alltag, zu dem es freilich selten ohne unsere eigene Mitverantwortung kommt. Aber es gibt auch das ganz normale Krankwerden, wofür ein eigentümlicher Ausdruck in der deutschen Sprache uns rät, „krank zu feiern“. Diese Weisheit lässt sich schlecht beziehen auf schwerste Krankheiten, Krisen oder wirkliche Horrorerfahrun­gen. Das wäre zynisch. Aber für dasjenige Maß an Leiden, das in der einen oder anderen Weise eben auch zum Daseinsalltag gehört, lässt sich eine Spur finden, sich mit dem Unangenehmen zu arrangieren. Dies geschieht durch Nachgeben und Einwilligen, um gerade dann kleine Wohltaten herbeizurufen und mit ihrer Kraft dem Unvermeidlichen zu trotzen.

Karin Vorländer