Demenz in Sicht

Wie können Familien mit der Erkrankung umgehen?

Demenzkranke leiden oft an Verhaltensstörungen, die das familiäre Zusammenleben erheblich beeinträchtigen. LW-Autorin Karin Vorländer gibt im Folgenden die Erfahrungen einer Landwirtsfamilie wieder, in der ein Ehepartner die erschreckende Diagnose „Alzheimer“ erhielt und was Experten raten, wie die Familie mit dieser Form der Demenzerkrankung umgehen kann.

Eine Demenzerkrankung entwickelt sich oftmals schleichend. Vergesslichkeiten und Verhaltensänderungen werden von den Betroffenen gerne vor den Mitmenschen verharmlost, was das Miteinander unter Umständen nicht einfach macht.

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Anfangs glaubte Renate Meissner (Name geändert) (52) an eine Beziehungskrise. Ihr Mann Wer­ner (54) wirkte bei der Arbeit auf dem Hof zunehmend gestresst, reagierte schon beim geringsten Anlass gereizt, beleidigt und aggres­siv. Er mied Familienfeiern und wenn Besuch kam, zog er sich nach kurzer Zeit zurück. Werner vergaß Namen, fand sein geparktes Auto nicht, suchte ständig Schlüssel, Brille oder Brieftasche. Sogar die Telefonnummer eines Freundes hatte er plötzlich nicht mehr parat. Renates anfängliche Belustigung und Irritation wich schnell ernsthaften Sorge. Anzusprechen war Werner auf seine gehäufte Schusse­ligkeit keines­­wegs. Im Gegenteil. Er wiegelte ab, verwies darauf, dass jeder einmal etwas vergesse, wurde ärgerlich, ja misstrauisch. Ein paar Wochen nach dem Urlaub allerdings kam er mit Tränen in den Augen aus dem Posaunenchor, wo er seit mehr als 30 Jahren als ausgezeichneter Bläser bekannt ist: „Ich kann manchmal die Noten nicht mehr spielen.“ Weitere „Aussetzer“ kamen hinzu: Bei der Buchhaltung konnte er plötzlich die einfachsten Additionsaufgaben nicht mehr bewältigen. Auf Renates Drängen suchte er seinen Arzt auf. Der veranlasste nach einem ausführlichen Gespräch eine ganze Kette von Untersuchungen bis hin zu einer Computertomographie. Am Ende war die Diagnose eindeutig: Werner leidet an Alzheimer.

Mit dieser Diagnose ist das ge­samte bisherige Leben in Frage gestellt: Alles, was bisher finanzielle Sicherheit, soziale Anerkennung und Einbindung sowie die Beziehung in der Familie ausmacht, ist bedroht. „Ich habe Angst, ob ich das schaffe. Wie kann ich ertragen, dass Werner auf sein eigenes Verlöschen zulebt?“, so drückte Renate Meiss­ner ihren Schmerz darüber aus, dass sie den Ehemann schon zu seinen Lebzeiten verlieren wird. Und wie wird es mit dem Hof weitergehen?

Ein schleichender Abbauprozess

Über 1,1 Mio. Menschen sind in Deutschland von einer Demenz­erkrankung betroffen, mehr als die Hälfte davon sind an Alzheimer erkrankt. Die meisten Betroffenen sind allerdings wesentlich älter als Werner Meissner. Dabei ist der eindeutige Beginn der Krankheit schwer festzustellen. Dem irreversiblen Verlust der Persönlichkeit und der völligen Unfähigkeit, den Alltag zu bewältigen, geht ein schleichender Abbauprozess vo­raus, der sich häufig über 15 bis 30 Jahre erstreckt. Darauf weist Sylvia Kern, Geschäftsführerin der Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg hin. Weil es aber auch andere Ursachen von Demenz wie Durchblutungsstörungen im Gehirn, Vitaminmangelsyndrome oder Schilddrüsenerkrankungen gibt, die bei früher Erkennung medikamentös zu bessern sind, und weil es auch bei einer Alzheimererkrankung die Möglichkeiten gibt, den Verlauf wenigstens für ein paar Jahre zu verlangsamen, ist ein frühzeitiger Arztbesuch in jedem Fall angeraten.

„Mögliche Symptome nicht verdrängen, sondern durch eine genaue Diagnose abklären“, heißt die Devise, wenn eine Demenzerkrankung in Sicht kommt. Genau das aber ist auch nach der Erfahrung von Alzheimer-Fachmann Günther Schwarz oft ein Problem. „Wirklich Erkrankte blocken oft einen Arztbesuch ab“, weiß der Diplom-Psychologe aus vielen Gesprächen mit Angehörigen, die häufig äußerst kreativ und findig sein müssen, um ihre Betroffenen überhaupt zu einem Arztbesuch zu bewegen. Aus Angst davor, abgelehnt und abgeschrieben zu werden, reden sie die Symptome klein und blocken ab. „Wenn jemand sich geborgen fühlte und sicher sein könnte, dass für ihn gesorgt ist, dann wäre die Situation vielleicht weniger beängstigend“, vermutet Sylvia Kern. Auch wenn ein Betroffener in der schwierigen Anfangsphase der Erkrankung sich selbst dem Thema nicht stellen will, können Angehörige zumindest für sich selbst etwas tun. Sie sollten sich in jedem Fall über angemessene Umgangsweisen mit einem Demenzerkrankten und über gesetzliche Hilfeleistungen informieren und für sich selbst Hilfe und Austausch suchen.

Mit Hilfe spielerischer Aufgaben kann man versuchen, die Alltagsfähigkeit des Er­krankten zu erhalten.

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Inzwischen gibt es bundesweit ein flächendeckendes Netz an kostenlosen Beratungs- und Hilfsangeboten. In Gruppen-oder Einzelberatungen können Angehörige einüben, dass weder Ermahnung noch Schimpfen fruchten, wenn die demente Mutter vielleicht zum fünften Mal anruft und die Nachbarin beschuldigt, den Schlüssel versteckt zu haben. Gefragt ist vielmehr ein Verhalten, das Günter Schwarz mit dem Fachwort „Validation“ bezeichnet, was bedeutet, dass man dem Kranken mit Geduld, Diplomatie, Wertschätzung und Verständnis zeigen soll, dass man ihn und seine Situation ernst nimmt. Etwa: „Jetzt hast du schon den ganzen Morgen den Schlüssel gesucht, das ist bestimmt sehr anstrengend für dich.“ Dass das auf die Länge der Zeit eine riesige Herausforderung sein und Betreuenden an den Rand ihrer Kraft bringen kann, ist, liegt auf der Hand. Sylvia Kern rät deshalb: Angehörige sollten von Anfang an Hilfsangebote wie stundenweise Betreuung, ambulante Pflege oder Tagesbetreuung und Leistungen der Pflegekasse in Anspruch nehmen. Wenig hilfreich sind dagegen tapfere Vorsätze wie: „Ich schaffe das schon alleine“ oder Versprechungen wie „Du musst niemals ins Heim.“ Zwei Drittel aller Demenzerkrank­ten werden zu Hause, meist von weiblichen Angehörigen, betreut. Dennoch, so Sylvia Kern, kann es im Verlauf der Erkrankung, die sich nicht selten über zehn bis 15 Jahre streckt, verantwortungsvoller sein, einen Demenzkranken in ein Heim zu geben, als womöglich selbst unter der Dauerbelastung krank zu werden und die Versorgung nicht mehr gewährleisten zu können. „Im Heim gibt es einen Schichtwechsel, zuhause nicht“, zeigt Sylvia Kern Verständnis für eine solche, meist schmerzhafte, Entscheidung.

Noch können Renate und Werner Meissner sich gemeinsam in die neue Situation hinein tasten. Denn die Diagnose Alzheimer bedeutet nicht, dass der Betroffene sofort völlig hilflos oder desorientiert ist. Werner bekommt Tabletten und hofft, den Fortschritt der Krankheit zumindest für eine Zeit aufschieben zu können. Anders als die Mehrheit der Betroffenen haben sie sich entschlossen, offen mit Werners Erkrankung umzugehen. Für sie ist die Diagnose Alzheimer weder eine Schande noch ein Tabu. Im Dorf ist seine Erkrankung kein Geheimnis. Werner geht jetzt nur noch zu Konzerten seines Posaunenchors – und hat auch dort erzählt, weshalb. Ob ihn wohl künftig jemand besuchen wird? Renate stellt bei vielen Freunden und Bekannten eine Mischung aus Betroffenheit, Hilflosigkeit und Scheu fest. Häufig muss sie selbst die Brücke schlagen und die Sprache auf Werners Erkrankung bringen. Seine Frühverrentung kann Werner im Wesentlichen noch selbst regeln – aber wenn es um Zahlen geht, machen sich die Ausfälle schon schmerzhaft bemerkbar. In einer Familienkonferenz, bei der die erwachsenen Kinder und sein Bruder dabei waren, haben alle gemeinsam beraten, wer bei fortschreitender Krankheit zusammen mit Renate eine Betreuungsvollmacht übernimmt. Auch ein gemeinsames Testament haben die Eheleute beim Notar verfasst. Mit ihrer Entscheidung, die Demenzerkrankung aus- und anzusprechen, gehören Meissners jedoch zu einer Minderheit der Betroffenen. „Je höher der soziale Status einer Familie ist, desto tabubesetzter ist das Thema Demenz“, so Sylvia Kern. Viele Familien ziehen sich aus Scham oder Unsicherheit aus Freundes- und Bekanntenkreisen zurück und bitten aus Scheu oder Scham auch Nachbarn, Freunde und Bekannte nicht um Hilfe. „Verstecken Sie sich nicht mit der Krankheit“, rät Sylvia Kern. Solange die eigenen Kräfte und die der pflegenden Angehörigen es zulassen, sollten sie sich anderen auch in der Öffentlichkeit „zumuten“. Für den Fall, dass das Verhalten eines Demenz­kranken bei Fremden womöglich Anstoß erregt, empfiehlt sie die bei der Alzheimer Gesellschaft erhältlichen kleinen Visitenkarten: „Mein Angehöriger ist verwirrt“ – so oder ähnlich lautet der Text, mit dem man Fremde schnell und unauffällig informieren kann, ohne den Kranken bloßzustellen.

„Solange ich noch kann, will ich mitentscheiden“, sagt Werner Meissner. Weil Kranke bei einer frühen Diagnose noch für eine (unterschiedlich lange) Zeit „bei Verstand“ sind, ist es wichtig, sie zu Wort kommen zu lassen und sie ernst zu nehmen. Für sich selbst hat Renate Meissner eine Angehörigen-Selbsthilfegruppe gefunden. Denn sie will lernen, wie andere damit umgehen, dass der Partner so oft unduldsam, reizbar und misstrauisch ist. „Ich muss mir immer wieder sagen, dass Werner nichts dafür kann, aber das ist schwer“, sagt sie. Werner Meissner jedenfalls hat beschlossen, seinem Sohn noch einmal seinen Lieblingsberg in den Alpen zu zeigen –trotz aller Einschränkungen. Am Steuer wird sein Sohn sitzen – auch wenn Werner betont, er könne durchaus noch Autofahren. „Wir ringen darum, uns das Heute nicht vom Morgen verdunkeln lassen“, sagt Renate Meissner – auch wenn sie immer wieder erlebt, wie schwer das ist. Und auch, wenn sie Angst vor diesem Morgen hat.