Immunsystem kontra Infektionsdruck
Energie und Nährstoffe für ein effektives Immunsystem
Die Immunabwehr von Kälbern wird oft reduziert auf die Immunglobuline, die über die Biestmilch auf das Kalb übertragen werden. Das reicht jedoch bei weitem nicht aus. Die Mechanismen, die den Körper vor Infektionen schützen, sind viel umfassender. Dr. Hans-Jürgen Kunz, Institut für Tierzucht und Tierhaltung, Christian-Albrechts-Universität Kiel, erläutert weitere Faktoren, die das Immunsystem beeinflussen und macht deutlich, wie viel Energie für ein gesundes Immunsystem benötigt wird.

Foto: Krämer
Welche Faktoren beeinflussen das Immunsystem?
Da weder Menschen noch Tiere in einer sterilen Umwelt leben, finden im Körper natürlicherweise zu jeder Zeit Abwehrprozesse gegenüber krankmachenden Erregern statt. Ob es zum Ausbruch einer Erkrankung kommt, hängt auf der einen Seite vom Erregerdruck, auf der anderen Seite von der Aktivität des Immunsystems ab. Hinzu kommt, dass es eine Reihe von Faktoren gibt, die das Immunsystem negativ beeinflussen. An erster Stelle steht dabei Stress in jeglicher Form. Das kann Umstallungsstress, ebenso wie Kälte- oder Hitzestress sein. Insbesondere bei schnellen Temperaturwechseln innerhalb weniger Stunden, wie sie besonders im Herbst häufig zu beobachten sind, treten solche Situationen mit zum Teil fatalen Folgen, insbesondere Atemwegsproblemen, auf. Um unter allen Bedingungen so effektiv wie möglich arbeiten zu können, braucht das Immunsystem Energie und Nährstoffe. Dabei spielen neben der Energie bestimme Aminosäuren, Mineralstoffe und Vitamine eine wichtige Rolle. Der Part der Ernährung ist in diesem Zusammenhang ein wesentlicher Punkt, der in der Kälberaufzucht nicht selten zu wenig beachtet wird. Auf der anderen Seite ist es wichtig, den Infektionsdruck so niedrig wie möglich zu halten. Das gelingt relativ leicht bei Erregern, die über das Maul aufgenommen und zum Beispiel durch Reinigungs- und Desinfektionsmaßnahmen effektiv reduziert werden können.
Sehr kalte Luft kann zu Stress führen
Deutlich schwieriger wird es, wenn Erreger im Spiel sind, die über die Luft übertragen werden und dazu in der Lage sind, beispielsweise Atemwegserkrankungen auszulösen. Erregerkonzentrationen können zwar über eine entsprechende Lüftung relativ leicht gesenkt werden, aber im Gegenzug wird damit häufig in den Herbst-, Winter- und Frühjahrsmonaten sehr kalte Luft in den Stall befördert, die bei den Tieren wiederum zu Stresssituationen führen kann und dadurch immunsuppressiv wirkt.
Wie viel Energie braucht das Immunsystem?
In dem angesprochenen Artikel im LW 13 wurde unter anderem ein Versuch von Barry et al. (2008) vorgestellt, in dem die Auswirkungen einer Influenzainfektion bei Labormäusen beschrieben werden, die mit unterschiedlichen Energiekonzentrationen ernährt wurden. Die Überlebensrate am 8. Tag nach der Infektion betrug bei den Ad libitum ernährten Mäusen etwa 60 Prozent, bei den restriktiv ernährten nur etwa 25 Prozent. Die Lungenschädigungen waren in der ad libitum-Gruppe deutlich niedriger als bei den restriktiv ernährten Mäusen. Grund dafür war bei den ad libitum ernährten Tieren die um ein Vielfaches höhere Zytotoxizität der NK-Zellen (natürliche Killerzellen) gegenüber den Grippeviren. Der einzige Unterschied zwischen den beiden Gruppen war das Ernährungsniveau. Doch lassen sich die Ergebnisse aus dem Mäuseversuch ohne weiteres auf Rinder übertragen und wieviel Energie wird für eine Immunantwort benötigt? Das Immunsystem ist zumindest gleich aufgebaut. Es gibt aber auch Versuche aus diesem Bereich mit Rindern.
Wichtiges in Kürze
In diesem Beitrag wird anhand von Untersuchungen, die von Kvidera et al. (2016) durchgeführt wurden, der Energiebedarf geschätzt, der für eine Immunantwort bei einer Infektion mit E-coli-Bakterien benötigt wird. Auf der Grundlage des metabolischen Körpergewichtes lässt sich die zusätzlich benötigte Menge an Milch ausrechnen, die beispielsweise 50 kg schwere Kälber unter gleichen Bedingungen für ihre Immunantwort benötigen würden. Das wären etwa zwei Liter Muttermilch. Hinzu käme der Bedarf für die Erhaltung, Körperzunahmen, Temperaturausgleich und Bewegung. Insgesamt kann hier mit einem täglichen Bedarf im Falle einer solchen Infektion von 10 Liter Muttermilch, bei in diesem Fall nur 400 g täglichen Zunahmen, gerechnet werden.
KunzAls Immunantwort wird Glucose als Energieträger verbraucht
Kvidera et al. (2016) haben beispielsweise den Energiebedarf für die Aktivierung des Immunsystems bei Milchkühen zu bestimmen versucht. Zu diesem Zweck haben sie drei Gruppen gebildet. Es gab eine Kontrollgruppe, in der die Kühe intravenös (i.v.) 3 ml physiologische Kochsalzlösung verabreicht bekamen. Eine zweite Gruppe wurde i.v. mit Lipopolysacchariden (LPS), in diesem Fall einem Bestandteil der äußeren Zellmembran von gramnegativen Eschirichia coli-Bakterien O55:B5, behandelt, die eine Immunantwort bei diesen Tieren auslösen, aber selbst nicht krankmachend sind. Die dritte Gruppe bekam die gleiche Behandlung wie die zweite, aber zusätzlich Glucose (Einfachzucker) verabreicht. Damit sollte der Glukosespiegel im Blut der Tiere möglichst konstant gehalten werden, da durch die Immunantwort Glucose als Energieträger verbraucht wird. Nach den Infusionen wurde bei allen Kühen alle zehn Minuten über einen Zeitraum von zwölf Stunden der Blutglukosespiegel gemessen. Die Tiere wurden während dieser Zeit zwei Mal gemolken.
Milchmenge sank in LPS-Gruppe ab
Der Blutglukosespiegel in der LPS-Gruppe sank ab der 150-igsten Minute nach der Behandlung gegenüber der Kontrollgruppe und der LPS-Gruppe mit Glucose ab. Ebenso sank die Milchmenge in der nicht mit Glukose versorgten LPS-Gruppe um 80 Prozent, in der LPS-Gruppe mit Glucose um 11 Prozent gegenüber der Kontrollgruppe. Aus der Summe der zugeführten Glucose und der durch den Milchverlust im Vergleich zu den anderen Gruppen nicht produzierten Energiemenge konnten die Versuchsansteller die Menge an Glucose ausrechnen, die für die Immunantwort benötigt wurde. Es waren 1 092 g Glucose innerhalb von zwölf Stunden. Andere Untersuchungen bei männlichen Rindern und auch bei Schweinen bestätigen diesen Wert und liegen in der Schätzung sogar noch darüber.
Energiebedarf von etwa 10 Liter Muttermilch
Rechnet man diesen Wert auf der Grundlage des metabolischen Körpergewichtes auf ein 50 kg schweres Kalb um, so entspräche der Energiebedarf pro Tag für eine solche Immunantwort, umgerechnet auf Muttermilch, einer Menge von circa 2 Litern. Hinzu kämen weitere Mengen: 4 Liter für den Erhaltungsbedarf, für tägliche Zunahmen von minimalen 400 g noch einmal 2,4 Liter, ein zusätzlicher Bedarf für den Temperaturausgleich, der zum Beispiel bei einer Umgebungstemperatur von 0 °C noch einmal 1 Liter betragen würde und Energie für Bewegung, die nicht definiert ist. Daraus ergäbe sich ein Schätzwert für den Energiebedarf unter den beschriebenen Bedingungen von etwa 10 Liter Muttermilch. Das entspricht etwa einer Menge von 1,6 kg Milchaustauscher. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie wichtig eine ausreichende Versorgung der Tiere mit Energie und Nährstoffen ist. Es darf darum zu keinem Zeitpunkt zu einer Unterversorgung der Tiere kommen, da dadurch die Gefahr von Infektionen massiv ansteigt.
– LW 42/2017