„Tu, was ich dir sage!“
Müssen Kinder immer gehorchen?
Sie werden gefragt, dürfen mitentscheiden, ihren Willen äußern: Kinder werden heute sehr viel freier erzogen als noch vor fünfzig Jahren. Ist gehorchen also „out“? Diese wichtige Erziehungsfrage beleuchtet Johanna Kallert im Folgenden für das LW.
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Pädagogik im Wandel
Hier wird deutlich, wie sehr sich Erziehung im Laufe der Zeit verändert hat. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wurde der Nachwuchs allgemein üblich auf Gehorsam gedrillt. Ohne Wenn und Aber und notfalls mit körperlicher Züchtigung. „Die Erziehungswissenschaft sah Kinder damals nicht als eigenständige Persönlichkeiten an“, weiß DipÂlom-Psychologe Dr. Andreas Hundsalz, Leiter der städtischen Erziehungsberatungsstelle in Mannheim und Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft für ErÂzieÂhungsberatung in Baden Württemberg, „sondern nur als unfertige Erwachsene, die erst noch so zurechtgeformt werden mussten, wie man sie brauchte.“ Und einen eigenen Willen zu haben, schien in diesen Zeiten nicht als erstrebenswertes Erziehungsziel. Vielmehr galten „Fähigkeiten“ wie Unterordnung, Obrigkeitsgehorsam und das (blinde) Ausführen von Befehlen als notwendiges Rüstzeug für das Leben.
Inzwischen hat sich das geändert: „Gehorsam steht in den „Charts“ der wichtigsten Erziehungsziele, die Eltern in Umfragen angeben, nicht mehr an vorderer Stelle, sondern spielt – wenn überhaupt – eine nachgeordnete Rolle“, so Dr. Hundsalz. In der letzten diesbezüglichen Allensbach-Umfrage von Juni 2000 zum Beispiel landete es abgeschlagen auf Platz 20, obwohl andere traditionelle Werte durchaus wieder vorne mitmischen. Warum das so ist? Zum einen hat sich die pädagogische Grundhaltung gewandelt: Kindern wurde eine eigene Persönlichkeitswürde zuerkannt, die es zu respektieren gilt. Auch im Gesetz sind die Rechte der Kleinsten inzwischen fest verankert.
Dazu kommt, dass die soziologischen und politischen Verhältnisse anders geworden sind. GehorÂsam im Sinn von wiÂderÂÂspruchslosem Befehlsausüben gilt heute beinahe als anrüchig und ist deshalb auch in der Erziehung „out“. Wichtig sind heute die entgegengesetzten Werte wie Selbstbewusstsein, Durchsetzungsvermögen, Eigeninitiative, Kreativität und Kritikfähigkeit. Und all das lernen Kinder nur, wenn sie sich möglichst frei entfalten dürfen.
Dieser Anspruch hat Erziehen allerdings nicht einfacher gemacht. Im Gegenteil: „Ich zögere oft, wenn ich meinem Sohn eigentlich etwas vorschreiben oder verbieten möchte, weil ich nicht weiß, ob ich ihn damit nicht zu sehr einschränke“, gesteht Timos Mutter Cornelia Bendler. Ein typisches Problem, das zeigt, welch schwierigen Balanceakt Eltern hier vollbringen müssen. Denn immer wieder heißt es abwägen: Wie viel Freiheit soll man gewähren, wie viel Gehorsam kann man verlangen. Hier das richtige Maß zu finden, gelingt nicht immer, wie Dr. Hundsalz weiß: „Viele Eltern neigen aus Unsicherheit dazu, den Kindern überhaupt keine Grenzen mehr zu setzen!“
Grenzen sind nötig
Doch Grenzen braucht es – je kleiner Sohnemann oder Töchterchen sind, desto mehr. Denn: „Lässt man kleine Kinder zu sehr gewähren, mutet man ihnen eine Selbstständigkeit zu, die sie noch nicht haben“, gibt der Erziehungsexperte zu bedenken. Ein Vierjähriger kann nun mal noch nicht selbst erkennen, was für ihn gefährlich oder schädlich ist, dafür müssen Eltern Sorge tragen. Und auch der Umgang miteinander erfordert Spielregeln und Einschränkungen, ebenso wie die ganz banalen Alltagszwänge.
Deshalb: Gehorchen im Sinn von Einhalten notwendiger Regeln muss auch heute noch sein, darüber sind sich Erziehungsexperten einig. Und Eltern im Grunde natürlich auch. Nur: „Was kann ich tun, wenn mein Sohn einfach nicht hört, wenn ich etwas verlange?“, fragt Cornelia Bendler und bringt damit ein häufiges Problem zur Sprache: Wie können liberal erziehende Eltern durchsetzen, dass ihre Anordnungen befolgt werden und ihnen die lieben Kleinen nicht „auf der Nase herumtanzen“?
Weniger ist mehr
Wichtig ist zunächst, so rät der Erziehungsexperte, dass Eltern sich über ihre Erziehungsprioritäten im Klaren sind. Und dann nur das anordnen, was nötig ist. Denn immer und überall maßregeln zu müssen, stresst Mütter und lässt Kinder irgendwann „auf Durchzug schalten“, nach dem Motto: Zum einen Ohr rein, zum andern raus. Bestehen dagegen einige klare Regeln, die auch konsequent gelten, dann wissen Kinder, was Sache ist. Und Eltern haben die Macht der Gewohnheit auf ihrer Seite: Hat Klein-Timo erst einmal erkannt, dass er nun mal sein Spielzeug abends aus dem Wohnzimmer wegräumen muss und Mama da nicht locker lässt, wird er seine Meuter- oder Nicht-Hinhör-Taktik sicher bald aufgeben.
Deshalb: Überlegen Sie zunächst in Ruhe – und stimmen Sie es auch mit dem Partner ab – wie Sie es zum Beispiel mit dem Süßigkeitenkonsum, dem Fernsehen, dem abendlichen Zubettgehen, dem Aufräumen, den Tischmanieren und so weiter halten wollen. Daraus lassen sich dann die Regeln aufstellen, die Ihnen besonders am Herzen liegen. Und die Sie – weil Sie selbst voll dahinterstehen – auch überzeugend anordnen können.
Nicht endlos diskutieren
Als Nächstes stellt sich die Frage, wie man richtig anordnet, denn allzu autoritär soll es schließlich nicht klingen. „Ich erkläre meinem Kai grundsätzlich, warum etwas verboten ist oder getan werden muss“, berichtet Ina Birkmann. Eine Strategie mit Erfolgsgarantie? Leider nicht immer. Manchmal fragt der Kleine zigmal nach, gesteht die junge Mutter, und verwickelt sie in endlose Diskussionen, wenn er beispielsweise nur seine sandverschmutzte Hose ausziehen soll. Ein häufiges Problem, wie der Erziehungsberater weiß. „Erklären und auf die Einsicht der Kleinen setzen statt nur befehlen, ist sicher grundsätzlich richtig“, so sein Kommentar. „Aber nicht Erklären ohne Ende. Denn manchmal haben Kinder ja längst begriffen und fragen nur aus Spaß immer wieder nach oder bringen Gegenargumente.“ Vor allem, wenn sich Eltern dadurch verunsichern lassen, nutzen kleine Schlaumeier dies schnell, um unangenehme Anordnungen abzuwenden. Deshalb: Dass die Sprösslinge widersprechen, muss erlaubt sein. Dass Eltern nicht jeden Widerspruch berücksichtigen, aber auch. Schließlich ist nicht jede Regel verhandelbar, und Zeit und Geduld für lange Debatten hat man auch nicht immer. „Sagen Sie dann ruhig einmal klar und deutlich: Schluss jetzt, das wird so gemacht, basta!“, ermuntert der Erziehungsberater allzu zögerliche Eltern. „Wenn Kinder spüren, dass es Mama oder Papa ernst meinen mit einer Anweisung, befolgen sie sie in der Regel auch!“
Sparsam mit Konsequenzen
Und wenn nicht? Dann werden meist Konsequenzen angekündigt, positive wie negative: „Wenn du schön aufräumst, gibt's hinterher ein Eis“ oder andersherum: „Wenn du jetzt nicht sofort aufräumst, werfe ich den ganzen Spielkram in den Müll!“ Wer lockt oder droht nicht im täglichen Erziehungsstress manchmal mit solchen Äußerungen? Denn wird eine Belohnung in Aussicht gestellt oder eine Strafe angedroht – so die Erfahrung von Elterngenerationen – wirkt das manchmal mehr als tausend Worte.
Allerdings nur dann, so der Erziehungsberater, wenn dieses Erziehungsmittel wohldosiert, also besser nur in Ausnahmefällen eingesetzt wird. Denn zum einen sollten die angekündigten Folgen in direktem Zusammenhang mit der Anordnung stehen, damit das Kind sie auch begreift. Und wem fällt da schon immer auf Anhieb die passende, logische, pädagogisch möglichst sinnvolle Konsequenz auf jede Unfolgsamkeit ein? „Zum anderen setzen Eltern, die ständig irgendwelche Konsequenzen ankündigen, sich selbst unter Druck“, gibt Dr. Hundsalz zu bedenken. Denn schließlich müssen sie dann bei Bedarf auch die angekündigten Taten folgen lassen. Tun sie das nicht, werden sie unglaubwürdig. Und dann kann es wirklich passieren, dass ihre Sprösslinge irgendwann überhaupt nicht mehr auf sie hören. Johanna Kallert
Ungehorsam muss manchmal sein
Kinder stark machen – Zivilcourage vorleben Dass Kinder nicht gehorchen, sondern sich widersetzen, wenn sie etwas nicht in Ordnung finden, ist heute gefragter denn je. Kann dieser „Ungehorsam“ sie doch möglicherweise vor Missbrauch oder vor negativen Gruppeneinflüssen schützen. Erziehungsberater Dr. Hundsalz nennt vor allem drei Punkte, die Kinder stark genug zum Nein-Sagen machen: Wichtig ist, dass Eltern
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