Enge Grenze zwischen Genuss und Sucht

Was kann man tun bei einer Suchterkrankung?

Ein Gläschen Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt, eine Schorle zum Abendessen, ein Stück Kuchen mit Rumsahne zum Kaffee – das sind nur wenige Beispiele, die zeigen, wie selbstverständlich man im Alltag verleitet wird, Alkohol zu konsumieren. Das gehört zur Geselligkeit. Wo aber liegt die Grenze zur Alkoholsucht? Das LW hat bei einer Expertin, die in einer Einrichtung zur Behandlung Drogenabhängiger arbeitet, nachgefragt.

Über den Durst getrunken – das passiert zu vielen Menschen zu oft.

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LW: Wo liegt die Grenze zwischen dem genüsslichen Glas Alkohol zum Essen oder am Feierabend und der Gefahr, durch ein Zuviel alkohol­abhängig zu werden?
Grit Lehmann:
Die Grenze kann ganz unterschiedlich sein. Man sollte darauf achten, wie oft man Alkohol trinkt und ob man ihn zu irgendetwas einsetzt, beispielsweise zur Beruhigung oder zum Schlafen. In diesen Fällen besteht häufig ein sogenannter schädlicher Gebrauch. Dies ist noch keine Abhängigkeit, führt aber schnell dahin. Personen, die überlegen, ob sie vielleicht zu viel trinken oder die das Gefühl haben, einer Art Zwang zu unterliegen, Alkohol trinken zu müssen, denen rate ich, sich zu einer näheren Abklärung mit einer Suchtberatungsstelle in Verbindung zu setzen. Gleiches gilt bei denjenigen, denen eine verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Trinkens besteht.

LW: Wie sollte man Ihrer Meinung nach im Alltag mit Alkohol umgehen?
Lehmann:
Aufgrund dessen, was ich in der Suchtberatung erlebe, sage ich: Je weniger, desto besser. Man sollte sich immer mal wieder fragen, ob das obligatorische Bier zum Abendessen wirklich nötig ist oder ob es mit Freunden in der Kneipe ohne Alkohol nicht auch mal geht. Muss wirklich immer Rotwein in die Soße oder Rum in die Sahne?

LW: Sind alkoholfreier Wein, alkoholfreies Bier eine Alternative?
Lehmann:
Für gesunde Menschen: Ja. Für Menschen mit Alkoholsucht: Nein, denn allein der ähnliche Geschmack kann Suchtverhalten auslösen.

LW: Was kann ich tun, wenn ich befürchte, jemand in meiner Umgebung könnte Alkoholiker sein?
Lehmann:
Ich kann durchaus dazu raten, dies anzusprechen. Allerdings wird die persönliche Beziehung dann häufig gefährdet, da die Einsicht den Betroffenen oft schwerfällt. Insbesondere da das Thema sehr scham­besetzt ist. Dennoch ist die Rückmeldung aus dem sozialen Umfeld sehr wichtig und stellt einen nicht zu unterschätzenden Schritt in der Auseinandersetzung mit der Krankheit dar.

LW: Welche Voraussetzungen benötigen Betroffene, um aus dieser Krankheit herauszukommen?
Lehmann:
Ein Entzug funktioniert nicht, wenn man fremdbestimmt wird. Man muss selbst den Willen für den Entzug haben und offen für die Veränderung sein. Einen Entzug alleine zu Hause zu machen – das ist der sogenannte kalte Entzug – das kann, wenn man regelmäßig trinkt, durchaus kritisch sein. Es kann zu schwerwiegenden Komplikationen kommen, zum Beispiel könnte ein Delir oder ein Krampfanfall auftreten. Deshalb ist es wichtig, den Alkohol nicht abrupt abzusetzen, sondern die Mengen langsam zu verringern. Noch besser ist es, einen Termin bei einer Entgiftungsstation auszumachen. Dort kann man unter ärztlicher Aufsicht entziehen, da ein Entzug durchaus lebensbedrohlich sein kann.

LW: Wenn man das geschafft hat, wie kann man dann einen Rückfall vermeiden?
Lehmann:
Das allerwichtigste ist der offene Umgang mit der Erkrankung. Das heißt, dass man über seine Abhängigkeit spricht und sein Umfeld informiert. Wir leben in einer Gesellschaft, in welcher Alkohol zum guten Ton gehört. Das bedeutet, man verschenkt gerne mal eine Flasche Wein oder jetzt zu Weihnachten eine Schachtel mit Alkohol gefüllten Pralinen. Dies kann immer wieder zu einer schwierigen Situation für die Betroffenen führen, wenn sie Alkohol ablehnen müssen. Insbesondere wer sich immer wieder Ausreden einfallen lässt, hat es schwer, aus dem Kreislauf auszusteigen. Wer einmal alle informiert hat, kann sich davon frei machen und sicher sein, dass sein Umfeld ihm nichts Schlechtes will und bestimmt ein anderes Geschenk findet.

LW: Gelten trockene Alkoholiker als von der Sucht geheilt?
Lehmann:
Nein. Wer einmal eine Abhängigkeit entwickelt hat, wird sein ganzes Leben damit zu tun haben. Hier ist es besonders wichtig, immer daran zu denken, dass der Abhängige auch nach längerer Abstinenz und auch nach vielen Jahren durch jegliche Art von Alko­holgenuss rückfällig werden kann und alles von vorne beginnt.

LW: Wie geht man mit einem Rückfall um?
Lehmann:
Es ist wichtig zu wissen, dass Rückfälle zur Erkrankung dazugehören. Das heißt, auch nach langer Abstinenz besteht die Möglichkeit, rückfällig zu werden. Oft versucht der Betroffene aus Scham und Angst vor den Konsequenzen, dies geheim zu halten. Das ist allerdings sehr gefährlich, denn die Ursachen sollten identifiziert werden, um dagegensteuern zu können. Das Aufarbeiten des Rückfalls macht oft den Unterschied, ob es bei einem einmaligen Ereignis bleibt oder ob der Betroffene in eine erneute Trinkphase fällt.

LW: Welche anderen Therapiemöglichkeiten gibt es?
Lehmann:
Egal in welcher Phase sich der Betroffene befindet, in der Suchtberatungsstelle erhält man Informationen und professionelle Hilfe. Darüber hinaus bieten Selbsthilfegruppen immer ihre Unterstützung an. Es gibt auch spezielle Selbsthilfegruppen für Angehörige. Weiterhin gibt es Entgiftungstationen, wo die Betroffenen unter Aufsicht einen Entzug machen können. Allerdings ist es schwer, danach wirklich abstinent zu leben. Eine Entwöhnungsbehandlung im stationären Umfeld ist daher oft eine Unterstützung. Hier lernen die Betroffenen den Umgang mit Suchtdruck, erarbeiten Risikosituationen und nehmen an der Rückfallprophylaxe teil. Danach findet man in der ambulanten Nachsorge Ansprechpartner und auch hier ist die Selbsthilfegruppe wieder ein wichtiger Baustein, um die gewonnene Abstinenz zu festigen.

LW: Wie wichtig ist das soziale Umfeld bei einem Alkoholentzug beziehungsweise auch danach?
Lehmann:
Die sozialen Kontakte, die man pflegt, sind besonders wichtig. Sie können sowohl eine große Unterstützung als auch ein Risiko darstellen. Besonders schwierig ist es, wenn die guten alten Bekannten auch zu viel trinken. Dann ist die Gefahr extrem groß, wieder rückfällig zu werden. Daher ist es besonders wichtig, sich ein sozial unterstützendes Umfeld wieder aufzubauen. Selbsthilfegruppen oder Vereine können auch dabei behilflich sein. Die Fragen stellte Stephanie Lehmkühler