Wenn Milchzucker krank macht
Kein Grund, komplett auf Milchprodukte zu verzichten
Ob Pudding, Käsekuchen oder Sahnesaucen – immer mehr Menschen vertragen keine Milchprodukte. Laktoseintoleranz heißt diese Lebensmittelunverträglichkeit und findet sich bei rund 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland. Ernährungswissenschaftlerin Irmingard Dexheimer beschreibt im Folgenden das Beschwerdebild sowie die Diagnose und liefert hilfreiche Tipps aus der Ernährungsberatung.
Der Fall von Anna H. ist typisch. Viele Patienten haben einen langen Leidensweg hinter sich, bis sie Klarheit für ihre Beschwerden finden. Primäre Laktoseintoleranz ist genetisch bedingt und keine Allergie, weltweit betrachtet ist sie sogar der Normalzustand: Dreiviertel der Weltbevölkerung verlieren im Laufe ihres Lebens die Fähigkeit, Milchzucker zu verdauen. In Asien, Schwarzafrika oder bei amerikanischen Ureinwohnern findet sie sich bei über 90 Prozent, bei den Bewohnern der Mittelmeerregion bei 60 bis 85 Prozent. „Durch unseren modernen Lebensstil mit steigender Globalisierung und einer weltweiten Verbreitung laktosehaltiger Nahrung sowie der zunehmenden Süd-Nord- und Ost-West-Migration ist auch in Mitteleuropa mit einer weiteren Zunahme von Patienten mit Laktoseintoleranz zu rechnen“, ist sich der Mediziner und Experte für Nahrungsmittel-Intoleranzen Dr. Maximilian Ledochowski sicher.
Bei Laktoseintoleranz bildet der Körper zu wenig von dem Enzym Laktase, das den Milchzucker in seine Bestandteile zerlegt. Dadurch kann der Zweifachzucker im Dünndarm nicht mehr ausreichend in seine Einzelbestandteile gespalten werden. Folge: Der Milchzucker gelangt unverdaut in den Dickdarm, wo er von Darmbakterien zu Wasserstoff, Kohlendioxid und kurzkettigen Fettsäuren abgebaut wird. Diese Stoffwechselprodukte lösen bei rund 90 Prozent der betroffenen Patienten die charakteristischen Beschwerden aus, wie Darmkrämpfe, Blähungen und Durchfälle bis hin zu Übelkeit, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Schwindel und sogar unreiner Haut.
„Dass mit meinem Bauch etwas nicht stimmte, merkte ich zum ersten Mal mit 19 Jahren“, berichtet Anna H. Bei den meisten Patienten beginnt die Verwertungsstörung während der Kindheit oder im frühen Erwachsenenalter. In der Regel nimmt die Fähigkeit, Milchzucker zu verdauen, nicht abrupt, sondern allmählich ab. Mit zunehmendem Alter werden folglich die verträglichen Milchzuckermengen immer kleiner. Doch gut zu wissen: Die Enzymproduktion versiegt nicht ganz, sondern sinkt auf ein Niveau von fünf bis zehn Prozent der ursprünglichen Kapazität ab.
Sorgfältige Diagnose wichtig
Besserung im Urlaub
„In Griechenland, wo wir vor zwei Jahren Ferien machten, waren meine Beschwerden fast wie weggeblasen“, wundert sich Anna H. noch heute. Stress weg, Symptome weg – viele Patienten vermuten daher fälschlicherweise eine psychische Ursache ihrer Beschwerden. Doch der Grund für die Besserung ist ein anderer: Durch die ungewohnte Ernährung am Urlaubsort kann sich die Darmflora ändern und sich damit die Krankheitssymptome deutlich bessern. Auch ist die Küche in Mittelmeerländern an den dort weit verbreiteten Laktosemangel angepasst.
Therapie sehr gut möglich
Laktoseintoleranz ist nicht heilbar, doch mit dem richtigen Wissen können Betroffene weitgehend beschwerdefrei leben. Kompetente Hilfe und Beratung finden Betroffene bei versierten, entsprechend qualifizierten Fachkräften (siehe Infokasten). Basis jeder Therapie ist, die Verträglichkeit von Milchzucker subjektiv auszutesten. Das ist wichtig, denn sie fällt bei jedem Patienten anders aus. Dazu hält der Patient über einen Zeitraum von vier bis sechs Wochen eine laktosefreie Kost ein. In dieser Zeit erhält der Speiseplan keine Milch, Milchprodukte oder mit Milch und Milchpulver zubereitete Speisen. Nach dieser Phase beginnt das individuelle Austesten, wobei der Patient stufenweise Milchprodukte mit steigendem Laktosegehalt zu sich nimmt. In einem Protokoll hält der Patient alle verzehrten Lebensmittel und die danach auftretenden Beschwerden exakt fest – das hilft, seine Schwelle für Milchzucker ausfindig zu machen.
Nie mehr Milch?
„Erst bin ich sehr erschrocken, denn ich dachte, jetzt sind Milchprodukte ein für allemal tabu für mich“, erinnert sich Anna H., die leidenschaftlich gerne Latte macchiato und Cappuccino trinkt. Meist ist es nicht notwendig, eine komplett laktosefreie Ernährung dauerhaft einzuhalten. Diese häufig propagierte Kostform schränkt die Lebensqualität nur unnötig ein. Eine laktosefreie Ernährung mit weniger als ein Gramm Laktose pro Tag ist nur in seltenen Fällen angezeigt. In der Regel reicht es aus, auf eine laktosearme Kost mit acht bis zehn Gramm Laktose pro Tag umzustellen. Diese ist kein Grund, die wertvollen, Vitamin-B2- und calciumreichen Milchprodukte pauschal vom Speiseplan zu streichen. Die meisten Hartkäse enthalten weniger als 0,1 g Milchzucker pro 100 g und werden selbst von Patienten mit niedrigen Schwellenwerten für Laktose gut vertragen – gut für die Gesundheit, denn Hartkäse kann einen hohen Beitrag zur Versorgung an Calcium leisten. Drei bis vier Scheiben Emmentaler decken bereits den Tagesbedarf an Calcium. Um eine vergleichbare Menge mit Gemüse aufzunehmen, müsste man über 800 g Spinat oder Broccoli essen. Faustregel: Je länger Käse reifen darf, umso weniger Milchzucker hat er. Auch Butter enthält kaum Milchzucker. Eine große Hilfe sind laktosefreie Milch und Milchprodukte, die es inzwischen in fast jedem Supermarkt zu kaufen gibt.
Tipp: Bei Milchprodukten die fettreicheren Varianten wählen, da sie aufgrund der längeren Kontaktzeit mit der Darmwand für Menschen mit Laktoseintoleranz besser verträglich sind. Auch fermentierte, nicht wärmebehandelte Milchprodukte wie Joghurt oder Kefir, werden meist problemlos in kleinen Mengen vertragen. Denn diese enthalten Bakterien, die während des Reifeprozesses den Milchzucker abbauen.
Laktose in vielen Lebensmitteln
Problematisch ist versteckte Laktose in Fertigerzeugnissen. Da Laktose hervorragend Wasser bindet und beim Backen für eine appetitliche Bräunung sorgt, kommt sie in einer Fülle von Lebensmitteln zum Einsatz, angefangen von Backwaren, Pommes frites und Kroketten bis hin zu Joghurt und Eiscremes. Außerdem wird sie gerne als Trägerstoff von Aromen, Süßstoffen oder Geschmacksverstärkern genutzt. Ein Segen für alle Betroffenen ist daher die strengere EU-Richtlinie, die seit November 2005 gilt. Danach müssen Hersteller alle verpackten Lebensmittel kennzeichnen, die Laktose enthalten. Für Anna H. ist das genaue Lesen der Zutatenliste bei jedem Einkauf schon Routine geworden: „Nicht zu glauben, wo überall Laktose enthalten ist, sogar in Nougat-Cremes, Ketchup, Senf und Gewürzmischungen!“
Ein Restaurantbesuch gerät hier für Betroffene schnell zum Abenteuer. Denn was Köche in Saucen und Suppen rühren, bleibt meist Betriebsgeheimnis. Um sich gegen Ãœberraschungen zu wappnen, können Enzympräparate aus der Apotheke helfen. „Wenn ich auswärts mal meinen geliebten Cappuccino trinken möchte, dann nehme ich eben vorher eine Tablette“, berichtet Anna H. Nachteil: Da die Präparate nicht magensaftbeständig sind, wirken sie individuell sehr verschieden. Es empfiehlt sich daher, sie vorher zu testen.
Und noch ein Hinweis: Der Gehalt von Laktose in Medikamenten und Süßstofftabletten schwankt zwischen 0,03 bis 0,19 Gramm pro Tablette. Diese sehr geringe Menge muss nur in seltenen Fällen berücksichtigt werden.
Calciummangel richtig vorbeugen
Je weniger Milchprodukte auf dem Speiseplan stehen dürfen, umso wichtiger ist es, auf eine ausreichende Calciumzufuhr zu achten. Denn Calcium schützt vor Osteoporose, der gefürchteten Skeletterkrankung. Die Zufuhrempfehlung für Jugendliche und Erwachsene beträgt laut Deutscher Gesellschaft für Ernährung (DGE) 1 000 bis 1 200 mg. Tipps: Calciumreiches Mineralwasser mit mindestens 150 mg Calcium pro Liter trinken. Auch gut: Sojamilch mit Calcium angereichert. Reichlich Gemüse, Hülsenfrüchte sowie Samen und Nüsse ergänzen die tägliche Calciumaufnahme. Frische Kräuter wie Petersilie, Schnittlauch oder Kresse helfen ebenso mit, die Calciumversorgung zu optimieren. Und gut zu wissen: Laktosefreie Milchprodukte enthalten genau so viel Calcium wie herkömmliche. |