Individuellere Spezialisierung im Agrarstudium möglich
Nachgefragt bei Prof. Hermann Boland, Gießen
Noch vor rund zehn Jahren wurde hierzulande an Hochschulen in Diplomstudiengängen der akademische Grad des Diplomingenieurs (Dipl.-Ing.) verliehen. Im Zuge des Bologna-Prozesses, der Schaffung eines einheitlichen Europäischen Hochschulraums, bieten heute die meisten Hochschulen in Deutschland das gestufte Studiensystem mit den Abschlüssen Bachelor of Science (B. Sc.) und Master of Science (M. Sc.) an. Ob sich das Studium der Agrarwissenschaften mit dem Bachelor- und Masterabschluss im Vergleich zum früheren Diplom verändert hat, dazu hat das LW Prof. Hermann Boland von der Justus-Liebig-Universität in Gießen befragt.
Foto: privat
Prof. Hermann Boland: Im Fachbereich Agrarwissenschaften, Ökotrophologie und Umweltmanagement der Justus-Liebig-Universität Gießen wurde das agrarwissenschaftliche Studium 2002 von dem Diplomsystem auf ein zweistufiges System mit den Abschlüssen „Bachelor of Science“ und „Master of Science“ umgestellt. Dabei wurden in den Bachelor-Studiengang praktische Anwendungsteile übernommen, während der Masterstudiengang forschungsorientiert gestaltet wurde.
Die große Breite der Grundausbildung wurde dadurch erhalten. Agrarwissenschaftler mit einem Bachelor- oder MasÂterabschluss sind heute weiterhin dadurch gekennzeichnet, dass sie von der gesamten agrarwirtschaftlichen Praxis, also in pflanzenbaulichen, tierzüchterischen, umweltorientierten, agrarökonomischen und poltischen Aspekten, eine Grundorientierung erhalten. Die Spezialisierungsmöglichkeiten im gesamten Studium sind individueller und zugespitzter geworden. Studierende können sich bereits im Bachelorprogramm „Agrarwissenschaften“ dafür entscheiden, entweder ein sehr spezifisches Muster anzulegen, sich also auf Pflanzenbau, Tierproduktion oder Agrarökonomie spezialisieren, oder aber sich breit über alle Themenfelder orientieren. Im Masterstudium wählen die Studierenden wie im früheren Diplomstudium einen Schwerpunkt. Sie können in Gießen zwischen den Masterprogrammen „Pflanzenproduktion“, „Nutztierwissenschaften“ und „Agrarökonomie und Betriebsmanagement“ wählen oder sich einem anderen Masterprogramm, also beispielsweise „Umwelt- und Ressourcenmanagement“ zuwenden. In diesen letzten beiden Jahren ihres Studiums setzen sich die Studierenden heute noch stärker als früher mit wissenschaftlichen Fragestellungen und wissenschaftlichen Vorgehensweisen auseinander.
LW: Zum Agrarstudium gehört heute ein Berufsfeldpraktikum. Was verbirgt sich dahinter?
Boland: Dabei geht es um ein gelenktes Praktikum, das in das Studium als ein Modul integriert ist. Frühestens nach dem dritten Semester vereinbart der Studierende mit einem Lehrenden ein Thema, das er auf einem landwirtschaftlichen Betrieb bearbeitet. Insgesamt umfasst das Praktikum 20 Wochen. Der Studierende muss abschließend einen Praktikumsbericht abliefern, den sein Uni-Betreuer bewertet.
LW: Kann man sagen, dass der Studiengang heute stärker verschult ist?
Boland: Das agrarwissenschaftliche Studium war immer durch eine klare Strukturierung gekennzeichnet: früher in Jahresabschnitten, heute in SemesÂterÂabschnitten. Für die Studierenden ergibt sich heute die Situation, dass sie am Ende eines jeden Semesters über die während des Halbjahres gelernten Inhalte Rechenschaft ablegen müssen. Dies ähnelt dem Schulsystem von der Prüfungsabfolge her. Allerdings ist immer noch ein Unterschied festzustellen, der in erster Linie in der Eigenverantwortung des Studierenden liegt. Er ist selbst für seine Arbeitseinteilung und sein Lernprogramm verantwortlich. Insofern lässt sich feststellen, dass heute das universitäre Studiensystem ein enger getaktetes Prüfungsverfahren hat, allerdings dem Studierenden dennoch die Freiheiten lässt, sich selbst in den gesetzten Grenzen individuell zu definieren.
LW: Sind die Studierenden einem höheren Leistungsdruck ausgesetzt?
Boland: Mit dieser engen Taktung verbunden ist die Wahrnehmung der Studierenden, dass ihnen keine Freiheiten bleiben individuelle Interessen zu realisieren. Hinzu kommt, dass alle im Studium erworbenen TeilleisÂtungen in die Gesamtnote eingehen. Dennoch hat sich die Leistungserwartung, die von den Lehrenden ausgeht, nicht verändert.
LW: Gibt es heute mehr Abbrecher als früher?
Boland: Während früher der Abbruch eines Studiums erst recht spät erfolgte, da Prüfungen erst nach einem oder zwei Jahren anfielen, zeigt sich heute bereits in den ersten zwei Semestern, ob der Studierende mit den Anforderungen zurechtkommt. Durch die semesterweise LeisÂtungserbringung ist die Zahl der Abbrecher wahrscheinlich nicht angestiegen. Es zeigt sich eher, dass ein Abbruch und ein Beenden des Studiums deutlich früher erfolgt als in den alten Diplom-Studiengängen.
LW: Welcher Abschluss wird derzeit häufiger angestrebt, Bachelor oder Master?
Boland: Nach unserer Wahrnehmung versucht der Großteil der Studierenden, einen MasÂterabschluss zu erlangen. Dieser ist dem früheren Diplomabschluss äquivalent und wird auch so wahrgenommen.
LW: Wie sehen Sie die Zukunft des Studiengangs allgemein und auch speziell in der landwirtschaftlichen Beratung, der Studienrichtung, die Sie vertreten?
Boland: Der Studiengang AgrarÂÂwissenschaften wird seine Bedeutung behalten. Eine Ausbildung für die natürlichen GrundÂlagen von Lebensmittelproduktion wird weiterhin bedeutend sein und in Zukunft eher an Wichtigkeit gewinnen. Die Struktur des Studiengangs wird sich vermutlich nicht grundsätzlich ändern. Es wird auch künftig darum gehen, sowohl die produktionstechnischen als auch die ökonomischen und sozialen Kontexte landwirtschaftlicher Tätigkeit im Studium intensiv kennen zu lernen.
Die Fragen der sozialen Bedingungen und Folgen landwirtschaftlicher Tätigkeit werden in dicht besiedelten Regionen wie den unsrigen künftig noch mehr Bedeutung erhalten. Dabei wird es nicht nur darum gehen, durch Beratung die Landwirte bei der nachhaltigen Bewirtschaftung ihrer Betrieb zu unterstützen, sondern ihnen auch Unterstützung bei der Kommunikation mit der Bevölkerung zu geben. Die Fragen stellte Stephanie Lehmkühler