Kinder brauchen Zeit

Den Familienalltag gemeinsam und auch mit Pausen gestalten

„Beeil dich! Schnell die Schuhe aus und dann ab in die Gruppe! Ich bin eh spät dran.“ Jeden Morgen erlebt Erzieherin Nadine Hagen, wie Eltern ihr Kind mit Blick auf die Uhr im Kindergarten abliefern. Die Zeit drängt.

Eine gemeinsame Mal-, Vorlese- oder Bastelstunde kann ein Familienritual sein, für das sich jedes Familienmitglied Zeit nehmen sollte.

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Vor allem, wenn beide Eltern berufstätig sind oder wenn ein Elternteil allein erziehend ist, ist der Zeitdruck enorm. Der Tag ist schon für die Kleinsten von der ersten Minute an getaktet. Denn Eltern müssen versuchen, Haushalt, Beruf, Fortbildung, Kinder, Ehe oder Partnerschaft, Hobby, Freundschaften, Arztbesuche, Einkäufe, und, und … unter einen Hut zu bekommen. Dass für die Kinder oft wenig Zeit bleibt, zeigt ein Blick in den 8. Familienbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2011:

63 Prozent der Väter und 37 Prozent der Mütter mit minderjährigen Kindern geben an, sich aus Zeitgründen nicht genug um ihren Nachwuchs kümmern zu können. Sie haben das Gefühl, ihre Kinder nicht ausreichend wahrnehmen, fördern, begleiten und beteiligen zu können. Mehr als 40 Prozent der Eltern klagen darüber, „oft oder immer“ unter Zeitdruck zu stehen. Dabei sind Mütter aus Doppelverdiener-Haushalten häufiger betroffen als Mütter aus Einzelverdiener-Haushalten. Bei allein erziehenden Müttern steht sogar jede zweite Frau unter Dauerstress.

Die Mehrzahl der Kinder erlebt den Stress und die Ungeduld, die aus der Zeitnot der Eltern erwächst, als Schattenseite der Berufstätigkeit außer Haus. Die von Familienministerin Schröder als Resultat des Familienberichts angekündigte Initiative für mehr Verträglichkeit von Familie und Beruf erscheint mehr als überfällig.

Nach wie vor verbringen Väter weniger Zeit mit ihren Kindern als Mütter. Laut einer repräsentativen Umfrage der UNICEF empfinden Kinder, dass sich Mütter unter der Woche zu 80 Prozent „viel“ oder „genügend“ Zeit für ihre Kinder nehmen, Väter kommen dagegen nur auf 44 Prozent.

Kinder haben ihre eigene Zeit

Einfach einmal nichts zu tun, kann die Kreativität des Kindes fördern.

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Was beim Thema „Kinder brauchen Zeit“ häufig übersehen wird, ist, dass Kinder anders in der Zeit leben als Erwachsene. Sie haben bis ins Grundschulalter hinein ein ganz eigenes Zeitgefühl. Warten oder „sich beeilen“ ist für die Kinder bis zum dritten Lebensjahr schlicht eine Ãœberforderung. „Wenn wir sie als trödelnd erleben, verarbeiten, denken, beobachten und lernen Kinder gerade etwas, was wir schon lange können. Und wenn sie ungeduldig quengeln, so tun sie das nicht, um zu nerven, sondern „weil der Reiz des Wollens in ihrem Gehirn sehr stark ist“, weiß Erzieherin Nadine Hagen.

Kinder sind auf ihre Art „zeitlos“, weil sie ganz im Hier und Jetzt leben. Sie können sich in ihr Spiel, das gleichbedeutend mit der Erkundung der Welt und der Verarbeitung vieler Eindrücke und neuer Erfahrungen ist, viel länger vertiefen als es Erwachsenen nötig erscheint. – Häufig sind sie mit vorgefertigten Spielen viel schneller „fertig“ als es Erwachsenen lieb ist.

Schon im Kindergarten müssen sich Kinder in vorgegebene Zeitpläne einfügen. Zu große Gruppen, die mit zu wenigen Erzieherinnen besetzt sind, sorgen schon hier für viele frontale Angebote, bei denen Kinder lange sitzen müssen. Nicht selten bleibt zu wenig Zeit zum freien Spiel, zum eigenen Erkunden und für die freie Interaktion.

Zeit fürs Nichtstun

„Kinder und Uhren dürfen nicht beständig aufgezogen werden, man muss sie auch gehen lassen“, hat der Dichter und Pädagoge Jean Paul (1763 bis 1825) empfohlen. Kinder brauchen Zeit, in der nichts auf dem Plan steht. Erwachsene haben das Gefühl, die Zeit müsse stets ausgenutzt, gefüllt und sinnvoll verbracht werden. Muße, in der einmal Zeit für Nichts ist, ist in unserer Zeit, in der für nichts Zeit ist, weithin ein Fremdwort. Kinder und Erwachsene brauchen jedoch einen Zeit-Raum, in dem sie in sich ruhen können.

Oft sind es die Eltern, die sich vor der Langeweile ihrer Kinder fürchten. Wenn ein Kind einmal „nichts“ tut, werden flugs Vorschläge und Angebote gemacht. Dabei sind Zeiten, in denen die Zeit lang wird, oft Motor und Quelle kreativer Ideen. Kindern mit ihrem Entdeckungs- und Bewegungsdrang fällt dann durchaus etwas ein – man muss ihnen nur Zeit lassen.

Schon im Grundschulalter sind viele Kinder mit einer Fülle von Nachmittagsterminen in enge Zeitkorsetts gepackt. „Ich habe keinen Nachmittag frei“, so die 12-jährige Frauke. Reiten, Klavierunterricht, Volleyball, Nachhilfe, ihr bleibt kaum Zeit für spontane Kontakte, fürs „Rumtrödeln“ oder für absichtsloses Spielen und Entdecken. Andere Kinder und Jugendliche dagegen werden vor den Bildschirmen geparkt und sich selbst überlassen.

„Qualitiätszeit“

Laut Bundesfamilienminis­terium wird Qualitätszeit folgendermaßen erklärt: „Als Qualitätszeit für Familien betrachten wir verlässliche und selbstbestimmte Zeitoptionen, die Familien bewusst für gemeinsame Aktivitäten nutzen. Dabei kann es sich sowohl um gemeinsame Ausflüge oder Spielnachmittage handeln als auch um Aktivitäten, wie etwa gemeinsames Kochen und Essen, solange sie bewusst als Familienzeit wahrgenommen werden. Reine Haushaltstätigkeiten oder Hobbys, bei denen andere Familienmitglieder auch anwesend sind, zählen hingegen nicht dazu. Für uns bemisst sich Zeitwohlstand in bewusster Interaktion, Fürsorge und Zuwendung mit dem Ergebnis von Wohlbefinden.“

LW

Alltagszeit und Qualitätszeit

Eltern, die über zu wenig Zeit für ihre Kinder klagen, haben nicht selten überhöhte Ansprüche an sich selbst. Zeit haben, das heißt für sie: Sich ausschließlich den Kindern widmen, mit ihnen spielen, vorlesen, toben, lernen oder etwas Besonderes unternehmen. Die Pädagogin Donata Elschenbroich dagegen betont, dass Kinder nicht ständig angeregt, bespaßt und mit Events unterhalten werden müssen. Die Botschaft ihres Buches „Die Dinge“ lautet: Nehmt die Kinder mit in euren Alltag! Die Welt der alltäglichen Dinge und Arbeiten sind für Kinder eine Fundgrube an Beschäftigung, Freude, Wissen und Fertigkeiten (siehe Buchtipp).

Es darf auch eine Art „Alltagszeit“ geben, in der Kinder einfach dabei sind, wenn die alltäglichen Arbeiten im Haus erledigt werden. Besonders kleine Kinder „helfen“ gerne oder machen gern etwas Ähnliches wie Mama oder Papa. „Kochen, Wäsche falten, gärtnern, spülen, Autoputzen, sind Tätigkeiten, die Kinder lieben! Sich auf sie einlassen und sie in ihrem Tun wertschätzen, das ist es, was Kinder brauchen!“, so Erzieherin Nadine Hagen.

Zeit haben, bedeutet dann, dass Eltern mit ihren Kindern in Kommunikation treten, wenn sie ihnen kleine altersgerechte Aufgaben zutrauen. Zeit haben, das kann auch bedeuteten, dass Kinder einfach in der Nähe sein dürfen, während Mutter oder Vater noch etwas erledigen. Aufwendige Events, wie Väter sie als Ausgleich für die ansonsten mangelnde Zeit gerne fürs Wochenende planen, dürfen die Ausnahme bleiben.

Neben dieser Alltagszeit ist natürlich auch die Qualitätszeit (siehe Kasten) wichtig, in der sich Eltern ganz ihren Kindern widmen. Hier helfen Rituale. Sie sind eine Art Bollwerk gegen die vielfältigen Ansprüche und Termine, die auf die Eltern einstürmen. Die gemeinsame Mahlzeit am Morgen und am Abend, ein je nach Alter gestalteter Tages- oder Wochenabschluss schafft Strukturen und entlastet. Eltern, die solche Rituale durchführen, müssen nicht ständig neu entscheiden, ob sie es schaffen, sich jetzt Zeit für die Kinder zu nehmen oder nicht. Weitere Tipps für ein qualitativ hochwertiges Familienleben lauten:

  • Eltern sollten sich darüber klar werden, was ihnen wichtig ist und welche Termine und Aufgaben sie auch mal hinten anstellen können.
  • Wo lässt sich der eigene Terminkalender „entschleunigen?“ Dazu kann auch die Ãœberlegung gehören, ob beide Eltern in Vollzeit berufstätig sein müssen oder wollen.
  • Feste Tagesabläufe und Rituale entlasten von überflüssigen Diskussionen und dem Zwang zu Ad-hoc-Entscheidungen.
  • Kinder brauchen zu Hause, in Kita und Schule freie Zeiten, in denen sie nach ihrem Rhythmus leben und lernen.
  • Kinder brauchen keine Spiel- und Spaß-Sonderwelt. Sie wollen am und im Alltag beteiligt und beachtet werden.
  • Eltern bauchen Zeiten zu zweit oder für sich allein.
  • Eltern sollten Dinge, die sie unter Zeitdruck tun, möglichst dann erledigen, wenn die Kinder in der Schule, in der Kita oder bei anderen Betreuungspersonen sind.
  • Je nach Job: Eltern sollten bei den Arbeitgebern das Thema flexible Arbeitszeiten ansprechen.
Karin Vorländer