Krebs bei Kindern – kein Todesurteil mehr
Sich als Familie gemeinsam und gegenseitig Kraft geben
Wohl kaum eine andere Diagnose löst einen vergleichbaren Schock aus wie die Diagnose Krebs bei Kindern. „Schon Grundschulkinder assoziieren, dass man an Krebs stirbt“, weiß Katharina Roos, die seit mehr als vier Jahren als Seelsorgerin auf der Kinderkrebsstation des Olgahospitals in Stuttgart arbeitet.
Jedes Jahr müssen sich in Deutschland etwa 1 800 Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren dem schweren Kampf gegen Krebs stellen. Die häufigsten Krebserkrankungen im Kindesalter sind Leukämie (Blutkrebs), Tumore des Gehirns und des Rückenmarks und Lymphknotenkrebs. Was Eltern und Kinder anfangs kaum zu glauben wagen, ist, dass es gute Aussichten gibt, den Krebs zu besiegen: Die Ãœberlebenschancen bei Kindern und Jugendlichen liegen heute bei etwa 80 Prozent. „Bei LeuÂkämie können sogar fast 90 Prozent der Kinder dauerhaft gesunden“, weiß Katharina Roos.Dennoch bleibt die Krebserkrankung eines Kindes eine extreme Belastung für die betroffenen Kinder und ihre Familie. Die Therapie beginnt in der Mehrzahl der Fälle umgehend und ist, wie Katharina Roos bestätigt, „eine Tortur“. Dabei ist es wichtig, auch jungen Kindern schon zu erklären, was der nächste Schritt ist, und dass es um eine sehr ernste Erkrankung geht. „Der Preis des Schweigens ist hoch. Kinder erleben Verharmlosung und Verschweigen als Vertrauensverlust“, so Katharina Roos. Für Eltern, die sich überfordert sehen, gibt es Hilfe bei fachlich ausgebildetem Personal.
Sechs bis neun Monate lang erhalten die jungen Patienten nach einheitlichen Standards der Kinderonkologie eine Therapie, zu der Bestrahlung, Chemotherapie und Operationen gehören können. Bei Kindern wird die Chemotherapie oft höher dosiert als bei Erwachsenen, denn Kinder erholen sich schneller als ältere Patienten. Dennoch sind die Nebenwirkungen enorm: Ãœbelkeit, die Schleimhäute werden in Mitleidenschaft gezogen, sodass kauen und schlucken oft tagelang nicht möglich ist, Haarausfall, Müdigkeit und Appetitlosigkeit belasten die Kinder. „Das schlimmste war, mit ansehen zu müssen, wie unser Sohn gelitten hat. Er musste da ganz alleine durch. Man kann seinem Kind nichts abnehmen“, erinnert sich Pia Hartmann (Name geändert) an die letzten eineinhalb Jahre, in denen die ganze Familie auf einer Achterbahn der Gefühle von Verzweiflung, Angst und Hoffnung durchgerüttelt wurde. Wie schlägt die Therapie an? Wie sehen die Blutwerte aus? Gibt es einen Rückfall? Ist das Kind stark genug für die „nächste Runde“? Hat es überhaupt Zweck?
Im Kummer nicht allein
Was dennoch hilft, die Zeit durchzustehen? Für Katharina Roos ist die Familie eine starke Ressource, wenn sie dem kranken Kind vermittelt: „Wir sind da und wir bleiben bei dir.“ Das Gefühl: „Wir schaffen das gemeinsam“, stärkt den oft beeindruckenden Kampfeswillen der Kinder. Vor allem während der akuten Behandlungszeiten ist die Anwesenheit der Eltern oder eines Elternteils für ein krebskranÂkes Kind fast genauso lebenswichtig wie die Therapie selbst. Für Eltern, die die oft weiÂten Wege zur Klinik nicht täglich zurücklegen können, gibt es vielerorts Elternhäuser und -wohnungen, in denen Mutter oder Vater kostengünstig wohnen und stets bei ihrem Kind sein können. Hier treffen sie auch andere Eltern, können Erfahrungen austauschen und sich gegenseitig stärken.
Krebs bei Kindern weckt Emotionen und große Hilfsbereitschaft. So gibt es etwa Hilfsvereine, die es sich zur Aufgabe geÂmacht haben, kranken Kindern und Jugendliche Herzenswünsche zu erfüllen. Ein Besuch im Fußballstadion, ein Aufenthalt auf einem Reiterhof, eine Heißluftballonfahrt, eine Reise in die USA – lauter schöne Projekte, die helfen, durchzuhalten. Katharina Roos erinnert sich daran, dass sogar der Wunsch, einmal mit einem Delfin zu schwimmen, erfüllt wurde. An manchen Kinderbetten hängt als „Verheißung“ auch das Bild eines Hundebabys: Wenn alles überstanden ist, kommt der ersehnte Hund ins Haus.
Eine wesentliche Säule der psychosozialen Betreuung ist auch die Klinikschule, in der die Kernfächer weiter unterrichtet werden, damit das Kind nach der Entlassung in seine alte Schulklasse zurückkehren kann. Wenn eben möglich, sollte auch Briefkontakt zu ausgewählten Mitschülern und Freunden gehalten werden. Im Olgahospital in Stuttgart werden auch Internet und Skype-Telefonie genutzt, um mit Freunden in Kontakt zu bleiben.
Krebs und die Frage nach der Schuld
Fast alle Eltern fragen sich „Habe ich etwas falsch gemacht, dass mein Kind an Krebs erkrankt ist? Rein medizinisch gesehen lässt sich diese Frage schnell beantworten: „Wissenschaftler und Ärzte gehen heute davon aus, dass die Ursachen für Krebs bei Kindern nicht eindeutig im Einzelfall zu belegen sind. Möglicherweise haben die Veränderungen im Erbmaterial, die aus einer gesunden Zelle eine Tumorzelle gemacht haben, bereits vor der Geburt ihren Anfang genommen“, heißt es auf der Homepage www.krebsinformationsdienst.de zum Thema Kinder und Krebs. Für Katharina Roos hat die Frage der Eltern dennoch eine Tiefendimension: Eltern stellen im säkularen Gewand die religiöse Frage nach Sinn, Verantwortung und Schuld und danach, wie Gott das Leiden von Kindern zulassen kann. Schnelle Antworten hat sie nicht parat. Die Frage nach dem Leiden bleibt ein „dunkles Geheimnis“.Und manchmal doch: den Abschied gestalten
Und wenn sich alle Therapien, alles tapfere Ertragen und alles Durchhalten dennoch als vergeblich erweisen? „Anders als Erwachsene willigen Kinder oft erstaunlich gelassen in ihr Sterben ein. Sie kämpfen für ihre Gesundheit. Aber wenn sie merken, dass sie ihr Leben gelebt haben, gehen sie in aller Ruhe. Die Größeren führen sogar noch Regie, indem sie ihre Sachen verschenken und den Eltern Aufträge für die Zeit nach ihrem Tod geben“, ist Theo Wilds Erfahrung aus 14 Jahren Seelsorge im Kinderkrankenhaus Köln. Auch Katharina Roos erlebt, dass Kinder sich mit dem Sterben beschäftigen und doch eher „beiläufig“ darüber reden. Da fragt ein Kind beim Uno-Spielen wie nebenbei: „Sag mal, beerdigst du auch Leute?“
Auch Bilder, die krebskranke Kinder malen, sprechen eine deutliche Sprache: „Dieses Flugzeug hat mir ein Kind kurz vor seinem Sterben gemalt, und ich denke mir, es wusste, dass es sehr bald himmelwärts gehen würde“, erzählt Theo Wild und zeigt auf ein anderes Bild „Diesen Engel hat mir eine Vierzehnjährige gemalt und erklärt: „Der Engel, das bin demnächst ich.“ Sie wusste einfach, dass sie ihr Leben gelebt hat und dennoch ist es nicht zu Ende, deutet Wild das Bild.
Ein besonderer Abschied
Wie Eltern einen beeindruckenden Weg gefunden haben, die letzte Wegstrecke ihres Kindes nicht als blindes Schicksal zu erleiden, sondern sie aktiv anzunehmen, schildert Klinkseelsorgerin Traute Herholz: „Als keine Hoffnung auf Heilung mehr für Matthias bestand, holten seine Eltern den Siebenjährigen nach Hause. Sieben Wochen pflegten sie ihn rund um die Uhr. Die Eltern luden Verwandte, FreunÂde, Nachbarn, die Kinder aus seinem Kindergarten und aus seiner Schule ein, sich von Matthias zu verabschieden. Das half ihnen, Matthias nach und nach loszulassen. Sie sagten: „Wir geben Matthias an Gott zurück.“ Sie suchten gemeinsam Lieder für die Beerdigung aus, schrieben einen Lebenslauf, der im Trauergottesdienst verlesen wurde. So drückten sie ihren Schmerz aus, aber auch ihren Trost. Bei der Beerdigung waren die kleine Schwester, die Vettern und Cousinen und Kinder aus dem Dorf dabei. Am Grab ließen die Kinder Luftballons steigen. Die Mutter sagte: „Wir wollten nicht in dieses schwarze Loch starren. Wir wollten nach oben zum Himmel schauen.“ Karin Vorländer
Wissenswertes
Für den Austausch zwischen Betroffenen stellt die onko-Kids-Website ein Forum und einen Chat bereit. Der Kontakt zur Heimatschule und die Teilnahme am Schulunterricht in der eigenen Klasse kann per Internet und Webcam per Liveschaltung ermöglicht werden. Zur Information von Kindern und Jugendlichen werden eigene multimediale Materialien entwickelt, die in kindgerechter Form über Erkrankung und Therapie aufklären. Diese Informationen sind zum Teil direkt über die Website abrufbar. K.V. |