„Zuvielitis“ im Kinderzimmer

Oder: Weniger Spielzeug ist mehr

Der Advent und Weihnachten rücken immer näher, doch schon jetzt ist in vielen Kinderzimmern das Angebot an Spielzeug nicht mehr überschaubar: Kuscheltiere, Puzzles, Konstruktionsspielzeug, Bauklötze und eine Flut pädagogisch wertvoller Lernspiele, Hörbücher und Computerspiele liegen dort herum. Mit dem Ergebnis, dass Kinder angesichts der Fülle oftmals kaum noch wissen, womit sie denn spielen sollen. Die Lösung lautet: weniger ist mehr.

Ein Überangebot an Spielsachen lässt Kindern zu wenig Spielraum für ihre eigene Kreativität und Fantasie.

Foto: Stella Raith/pixelio

Im letzten Jahr durfte, oder soll man besser sagen?, musste Jannik (6) jeden Tag fünf Adventskalender öffnen: Den mit Schokolade von den netten Nachbarn, den mit den roten Säckchen von der Patentante, in dem Süßes oder ein Zettel mit der Ankündigung einer gemeinsamen Aktivität steckte, zwei von den Großeltern – einen mit einem Legospielzeug für jeden Tag und einen mit täglichen Mini-Bilderbuch. „Richtig freuen konnte sich Jannik gar nicht mehr. Er hat nur noch abgeräumt“, erinnert sich Mutter Steffi Klein. Angesichts dieser Erfahrung mit der Ãœberfülle wird in Janniks Mutter die Sehnsucht nach dem guten alten Adventskalender wach, bei dem sie jeden Tag ein schlichtes buntes Bild erfreute. „Die kleinen Freuden von früher scheinen wohl passé“, bedauert sie. „Weniger ist mehr“, hat sie deshalb beschlossen und Freunden und Großeltern mitgeteilt: „In diesem Jahr kriegt Jannik nur von uns einen Kalender.“ Weil sie keinen Bildchenkalender fand, gibt es jetzt einen mit einer Vorlesegeschichte für jeden Tag.

Angriff auf das Lustzentrum des Gehirns

Mit ihrer Entscheidung liegt Steffi Klein auf der Linie dessen, was die neuere Hirnforschung belegt: „Ein Zuviel an Eindrücken lässt uns emotional abstumpfen. Zu viele Eindrücke legen das Lustzentrum des Gehirns lahm, sodass wir uns weder richtig begeistern noch freuen können“, erklärt Autor Archibald Hart in seinem Buch „Wer zu viel hat, kommt zu kurz“.

Viel zu viele Konsumgüter

„Zuvielitis“ nennt der Mediziner und Kabarettist Eckard von Hirschhausen die Tatsache, dass unsere Gesellschaft alles zu jeder Zeit und im Ãœberfluss anbietet und zugleich den Eindruck vermittelt: Es nie genug – zum Zufrieden- und Glücklichsein reicht es nicht. Immer neue Angebote an Unterhaltungsangeboten, Freizeitevents und Medien versprechen Glück, Zufriedenheit, Bildung und Erfolg. Und so führt für viele der Weg zum vermeintlichen Glück über das Kaufen und Konsumieren.

Diese Haltung macht auch vor den Kinderzimmertüren nicht Halt: Kuscheltiere en masse, Puzzles, Konstruktionsspielzeug, Holzeisenbahn, Bauklötze und Legosteine, eine Flut pädagogisch wertvoller Lernspiele, Bücher, Hörbücher und Computerspiele lassen die Spielzeugregale überquellen. Mit dem Ergebnis, dass Kinder angesichts der Fülle oftmals kaum noch wissen, womit sie denn eigentlich spielen sollen. Die von Eltern gefürchtete Klage: „Ich weiß nicht, was ich machen soll“, verstummt trotz oder wegen des Ãœberangebots nicht.

Erzieherin Reinhild Pelger setzt sich für ein reduziertes Angebot und die bewusste Auswahl von Spielzeug ein – und dafür, dass Eltern es aushalten, wenn ihre Kinder auch mal über Langeweile jammern. „Man muss Kinder auch mal in Ruhe lassen. Sie brauchen nicht unentwegt Vorschläge. Sie suchen und finden Spielräume. Man muss ihnen aber auch Zeit dafür lassen“, ist Pelgers Erfahrung.

Alltagsgegenstände entdecken

Kinder brauchen nicht immer neues Spielzeug. Sie müssen nicht unentwegt unterhalten, bespaßt und beschäftigt werden. Kinder brauchen so etwas wie die „Expedition zu den Gegenständen des täglichen Lebens“, fordert Donata Elschenbroich. Sie gilt als Expertin für Bildung in den frühen Jahren und hat sich auf dem Gebiet der international vergleichenden Kindheitsforschung einen Namen gemacht (siehe Buchtipp). Sie ermutigt Eltern, Kinder nicht ausschließlich in die Sonderwelt von gekauftem Spielzeug zu entlassen, sondern Kinder in den ganz normalen Alltag einzubeziehen. „Kinder brauchen und lieben es, mitmachen und mithelfen zu dürfen“, sagt sie. Beim Einkaufen und Aufräumen, beim Wäscheaufhängen und Autoputzen, beim Kochen und Backen, beim Laubfegen und Tischdecken kann man Kinder einbinden. Und sie brauchen es, dass Eltern gemeinsam mit ihnen ganz banale Alltagsgegenstände entdecken. Denn, so führt Donata Elschenbroich aus: „In den Dingen steckt das Wissen der Welt. Die Alltagsgegenstände sind oft spannender als viele Spielzeuge.“ Was zum Beispiel kann man mit einer Wäscheklammer alles machen? Und wie ist zu erklären, dass dieses Wunderding immer wieder in die Ausganslage zurückkehrt? Wie funktioniert eine Stimmgabel? Und was lässt sich mit ihr entdecken? „Jedes Elternhaus könnte eine Wunderkammer sein“, meint Donata Elschenbroich. Sie erinnert an die „Wunderkammer“ des frommen Reformpädagogen August Hermann Francke, der für seine Zöglinge eine solche Wunderkammer mit alltäglichen und geheimnisvollen Exponaten anlegte, um „über die Welt staunen zu lernen und Gottes Taten zu feiern“.

Termine wohl dosieren

Kinder brauchen und lieben es, mitmachen und mithelfen zu dürfen. Wie man hier sieht, ist der kleine Junge eifrig dabei, beim Laubfegen zu helfen.

Foto: imago images

Wohl die meisten Eltern wollen das Beste für ihre Kinder. Angesichts von verheerenden Pisa-Studien boomt das Angebot von Frühförderungskursen: Englisch für Kleinkinder (ab drei Monaten), Frühschwimmen, musikalische Frühförderung und, und und. Kurse sollen schlummernde Talente wecken, soziale Kompetenz, Kreativität und Intelligenz stärken und möglichst den späteren schulischen Lernerfolg garantieren. „Verplante Kindheit“ nennen Wissenschaftler die nicht selten entstehende Terminhetze, denen Kinder vermehrt ausgesetzt sind. Die gemeinten Bemühungen, ihnen möglichst viel Abwechslung zu bieten und sie möglichst früh in vermeintlich entwicklungsfördernde Kurse zu schicken, beschert vielen Kindern viel zu früh einen zu vollen Terminkalender.

Digitale Medien sorgen früh für eine Reizüberflutung

Hinzu kommt schon früher Medienkomsum: Kassetten und Hörbücher, Fernsehen, Playstation und Computer vertreiben zwar vordergründig die Langeweile oder vermitteln womöglich sogar Wissen. Sie sorgen zugleich aber für Mangel an Bewegung und für eine Flut von kaum zu verarbeitenden Eindrücken. Beim Medienkonsum können Kinder „nicht mitspielen, sie können das Geschehen nicht beeinflussen. Handeln und Gestalten sind nicht gefragt. Das Fernsehkind wird leicht zum Konsumkind. Weil ihm beim Fernsehen die Möglichkeit fehlt, selbst etwas einzubringen, fehlt ihm das Gefühl, anderen etwas geben zu können. Es bleibt ohne emotionale Bindung“, urteilt Hirnforscher Prof. Gerald Hüther (siehe Buchtipp). Er weist nach: Nachhaltig prägt sich nur das ein, was wiederkehrt und was eigene Aktivität erfordert. Neuronale Verknüpfungen und Bahnen entstehen durch Wiederholung und Rituale.

Rituale vergangener Tage einsetzen

Und so gewinnen womöglich die einfachen Freuden und die Rituale vergangener Tage wieder neue Bedeutung: die Reime und Kinderlieder, die Dämmerviertelstunde bei Kerzenlicht, das Gute-Nacht-Gebet, der Kakao nach dem Baden am Freitag­abend, das Verkleide- und Verwandlungsspiel, der Spaziergang im Wald und die Kunst, aus einem Stock eine Wünschelrute, einen Zauberstab oder eine Bohrmaschine zu machen. Weniger ist mehr – Eltern und Kinder können es gemeinsam entdecken.

Karin Vorländer