Erinnerungen aus dem Landleben

„coronarchiv“ sammelt Beiträge rund um die Pandemie

Das freie und offene Online-Portal coronarchiv sammelt seit März 2020 individuelle Alltagserfahrungen, Erlebnisse, Gedanken und Erinnerungen an die Corona-Pandemie. Jeder kann dazu beitragen. Auch die LW-Leser sind eingeladen, sich zu beteiligen.

Wie ist das Leben mit Corona auf dem Land für Klein und Groß? Das „coronarchiv“ möchte unter anderem das Leben auf dem Lande in Zeiten der Pandemie dokumentieren.

Foto: Silke Bromm-Krieger

„Bleiben Sie zu Hause! Der Gang zur Arbeit, zum Arzt oder zum Lebensmitteleinkauf ist weiterhin möglich. Zuwiderhandlungen werden hart bestraft!“ Eine Audio-Datei mit dieser Ansage der Feuerwehr, die am Samstagnachmittag des 21. März 2020 vor dem ersten Lockdown durch München fuhr und die Bevölkerung informierte, war einer der ersten Beiträge, die das coronarchiv erreichten. Am 26. März 2020 ging das Portal online. „Es lädt alle Bürgerinnen und Bürger ein, Texte, Fotos, Sounds und Videos unkompliziert digital hochzuladen und damit für die Zukunft zu sichern“, erklärt Thorsten Logge, Projektleiter und Gründer des Forschungsprojekts. Das coronarchiv sei ein gemeinsames Public-History-Projekt der Universitäten Hamburg, Bochum und Gießen in Zusammenarbeit mit dem Medizinhistorischen Museum Hamburg und dem Museum für Hamburgische Geschichte.

Digitale Sammlung

„Was diese Pandemie im Vergleich zu den historischen Pandemien so anders macht, ist, dass wir heutzutage die technischen Möglichkeiten der Selbstdokumentation in Ton, Text und Bild haben“, meint der Juniorprofessor für Public History an der Universität Hamburg. Menschen könnten hier das eigene Erleben dokumentieren, veröffentlichen und mit anderen teilen. „Es ist ein offenes Dokumentieren, nicht nur ein Dokumentieren für Forschungszwecke der Universität. Wir nehmen die digitalen Beiträge entgegen, prüfen sie und stellen sie zeitnah den Nutzern des Portals zur Verfügung“, erläutert der 46-Jährige die Vorgehensweise.

Mancherorts sieht man Schilder, die auf eine Pony- oder eine Kuhlänge als Abstandsmaß während der Corona-Pandemie hinweisen. Auch mehrere Weinflaschen nebeneinander werden herangezogen, um den Mindestabstand bildhaft zu verdeutlichen.

Foto: imago/Frank Sorge

Da das coronarchiv eine digitale Sammlung ist, arbeiten die Initiatoren mit Museen zusammen, die vielerorts parallel analoge Exponate zur Pandemie sammeln. „Einige wenige Dinge haben uns zwar erreicht, aber für eine Sammlung von Objekten fehlen uns Infrastruktur und Platz“, so Logge. Deshalb bestehen bundesweit zahlreiche Kooperationen wie beispielsweise mit dem Stadtarchiv in Gelnhausen oder dem Kulturforum in Hanau. Doch was genau wird auf dem Online-Portal eigentlich gepostet? Beim Stöbern fällt auf, dass hier hauptsächlich Beiträge aus den Städten und nicht so viele aus den ländlichen Regionen zu finden sind.

Ein Kind von einem Hof berichtet

Berührend ein Text von Schülerin Merle, die auf einem landwirtschaftlichen Betrieb wohnt. Aus Kindersicht beschreibt sie ihren Alltag in der Pandemie. „Durch die Corona-Zeit habe ich gemerkt, wie toll es ist, auf einem Bauernhof zu leben“, berichtet die Elfjährige und verrät, dass ihr persönlicher Glücksfall in der Pandemie Hofhund Harry ist. Mehr Zeit als vorher verbringe sie mit ihm. „Durch das gemeinsame Kümmern und Spielen ist er so vertrauensvoll zu uns geworden, dass er ein richtiger Familienhund geworden ist. Irgendwie ein richtiger Freund. Und wenn's mal Stress gibt, kann man ihm einfach alles erzählen. Er spendet uns allen Freude und Trost.“

Weinflaschen als Abstandsmaß

Zum Schmunzeln ist ein Plakat aus dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020, das eine Ober-Ingelheimerin im coronarchiv hochlud. Auf ihm gibt das Land Rheinland-Pfalz Anweisungen, was das Abstandhalten angeht. Neben einer entsprechenden Grafik ist dort zu lesen: „Abstand in Rheinland-Pfalz: mind. 18 Flaschen Wein.“

Mitmachen

Unter coronarchiv.blogs.uni-hambu... können Beiträge aus 2020 und 2021 hochgeladen werden. Hier kann man auch als Suchbegriff seinen Wohnort oder sein Bundesland eingeben und dann schauen, welche Beiträge von dort bereits vorhanden sind.

sbk

Landwirtschaftliche Funde

Thorsten Logge weiß, dass es bei den Beiträgen ein Stadt-Land-Gefälle gibt. Insbesondere Beiträge mit Bezug zur Landwirtschaft und zum Landleben sind rar gesät. Das will der engagierte Historiker gerne ändern. „Der Alltag der Landbevölkerung und der Alltag von landwirtschaftlichen Familien gehören dokumentiert. Deshalb freuen wir uns ganz besonders über neue Beiträge aus diesem Bereich“, ermutigt er Landwirte, Winzer, Landfrauen, Landjugend und Landsenioren aktiv zu werden. Schließlich fanden und finden im landwirtschaftlichen Umfeld etliche Aktionen statt, die es wert sind, für die Nachwelt dokumentiert und erhalten zu werden. Sind von Aktionen oder einfach vom Alltagsleben auf den Höfen Fotos und/oder Digitalisate vorhanden? Dann ab ins coronarchiv und teilen! „Für die Geschichtsschreibung ist es enorm wichtig, dass wir davon wissen. Selbst dann, wenn sich gefühlt im eigenen Leben gar nicht so viel verändert hat, ist auch das eine Beobachtung von Bedeutung. Was nicht archiviert wird, findet später nur schwer den Weg in die Geschichtsschreibung und geht unwiederbringlich verloren“, gibt Logge zu bedenken.

Überlieferung bewahren

Der Wissenschaftler freut sich, dass das coronarchiv im März 2021 seinen ersten Geburtstag feierte. Seitdem sind über 5 000 Beiträge von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zusammengekommen. Das coronarchiv wurde damit zu einer der größten Sammlungen in diesem Bereich.

Wie werden wir weiter mit Corona leben? Wird es durch die zunehmende Anzahl an Impfstoffen und Impfungen eine nachhaltige Entspannung der Lage geben? Eines bleibt zu hoffen: Irgendwann wird die Pandemie der Vergangenheit angehören. Wie die Menschen dann rückblickend von ihr sprechen und denken, wird maßgeblich davon geprägt sein, welche Spuren noch sichtbar sind.

„Das coronarchiv möchte dafür sorgen, dass die Überlieferung so facettenreich wie unsere aktuelle Lebenssituation ist. Eine vielfältige Gesellschaft braucht vielfältige Erinnerung“, ist Logge überzeugt.

Silke Bromm-Krieger – LW 29/2021