Lebensaufgabe Mutter

Mit einem Herz voll Liebe für die behinderte Tochter

Mütter sind in der Regel wie selbstverständlich 365 Tage im Jahr rund um die Uhr für ihre Familie im Einsatz. Brigitte ist eine von ihnen. Im Jahr 2002 kam ihre Tochter Jessica schwerstbehindert zur Welt. Seitdem stellt sie sich couragiert der Lebensaufgabe, Mutter zu sein.

Jessica ist ein fröhliches und aufgewecktes Kind. Brigitte ist es wichtig, dass die Zehnjährige die bestmögliche therapeutische und pädagogische Förderung erhält.

Foto: Silke Bromm-Krieger

Wenn morgens gegen 7.45 Uhr der Bus kommt, um Jessica ins Förderzentrum für körperliche und motorische Entwicklung abzuholen, muss Brigitte sich beeilen. Um 8.30 Uhr beginnt ihr Dienst als medizinische Fachangestellte in einer Arztpraxis. Bis um 13 Uhr ist sie dort tätig. Danach geht sie schnell einkaufen, erledigt Besorgungen oder macht den Haushalt, bis Jessica um 15 Uhr von der Schule kommt und ihre volle Aufmerksamkeit beansprucht.

Durch Sauerstoffmangel unter der Geburt kam Jessica vor zehn Jahren mit einer Cerebralparese zur Welt. Störungen des Nerven- und Muskelsystems führten zu einer beidseitigen Spastik. Jessica ist deshalb auf ständige Unterstützung angewiesen. Sie kann nicht allein sitzen oder stehen, trägt Windeln und benötigt pürierte Kost, die ihr angereicht wird. Diverse Hilfsmittel, die Brigitte bei der Krankenkasse immer wieder erkämpfen muss, erleichtern den Pflegealltag. Erst vor Kurzem hat die streitbare Mutter durchgesetzt, dass sie zumindest probeweise für drei Monate einen blickgesteuerten Monitor zur Kommunikation mit Jessica austesten kann. „Allein diese Probephase kostet über 5 000 Euro“, gibt sie zu bedenken. Doch dieses Gerät sei enorm wichtig, um herauszufinden, was Jessica will oder was sie gerade braucht. Denn sprechen oder sich anderweitig verständlich machen, kann das Mädchen nicht. Die ersten Versuche mit dem sogenannten „Tobii-Talker“ sind vielversprechend.

Die Pflege der Tochter hat bei Brigitte schon körperliche Spuren hinterlassen. „Mein Arzt sagt, ich habe die Knochen und den Rücken einer 80-Jährigen“, erzählt sie. Da sie Jessica regelmäßig hebt und trägt, sind Verspannungen und Ãœberbelas­tungen vorprogrammiert. „Deshalb sorge ich mit viel Sport für Ausgleich. Schließlich muss ich für Jessica fit bleiben“, meint sie.

Alle Kraft für Jessica

Wie es war, als ihr der Arzt nach der Geburt mitteilte, dass die Tochter behindert ist, weiß sie noch genau. „Mein Mann und ich empfanden zunächst eine tiefe Trauer. Ich war völlig fertig mit der Welt, funktionierte nur noch. Ich machte mir klar, dass unser Kind nie würde laufen, sprechen oder herumtollen können“, schaut sie zurück.

Bald spürt Brigitte, dass negative Gedanken und Grübeleien sie nicht voran bringen. „Ich brauche all meine Kraft für mein Kind“, entscheidet sie. Seitdem kann sie gelegentliche „Durchhänger“ wegstecken, nimmt jeden Tag wie er kommt und freut sich riesig über kleine Entwicklungsfortschritte der Tochter.

„Wir akzeptieren und lieben Jessica so wie sie ist. Wir kennen sie ja nicht anders“, sagt die 42-Jährige und gibt ihrem Nachwuchs einen zärtlichen Kuss auf die Wange.

Als Jessica zwei Jahre alt ist, entschließt sich Brigitte, stundenweise wieder zu arbeiten. Ehemann Christian ist bei der Bundeswehr beschäftigt und erhält die Zusage, zukünftig ausschließlich heimatnah eingesetzt zu werden. So können beide Elternteile für Jessica sorgen. Die Großeltern und zwei speziell geschulte Babysitterinnen unterstützen das Ehepaar je nach Bedarf.

Eigene Freiräume schaffen

Brigitte hat im Kinderzimmer eine „Snozzle-Ecke“ eingerichtet. Hier werden Jessicas Sinne durch Lichteffekte und andere Reize gezielt angeregt.

Foto: Silke Bromm-Krieger

Bei aller Fürsorge für die Tochter hat Brigitte gelernt, wie wichtig es ist, sich von Zeit zu Zeit eigene Freiräume zu schaffen. „Trotzdem steht Jessica immer an erster Stelle“, betont sie. Kleine Fluchten aus dem täglichen Einerlei, wie ein Kinobesuch mit ihrem Mann oder ein Wochenendtripp mit der Freundin, gönnt sie sich bewusst.

In diesem Jahr ist sie für drei Tage verreist, um an einer Fachtagung über „Frauen mit besonderen Herausforderungen – Mütter behinderter Kinder in der Familie und in der Gesellschaft“ teilzunehmen. „Auch das geht mal“, ist sie sich sicher.

Bei den aktuellen Diskussionen um eine nötige Integration von Menschen mit Behinderung oder um eine Inklusion, wie es neuerdings heißt, stellt Brigitte ernüchtert fest: „In der Öffentlichkeit kommen Eltern mit behinderten Kindern nicht vor. Niemand macht sich Gedanken darüber, was es bedeutet, mit einem behinderten Kind zu leben. Die meisten fragen nur, wie schaffst du das alles?“

Da Brigitte und Christian der Tochter ein normales Leben mit vielfältigen Eindrücken ermöglichen wollen, nehmen sie sie überall mit hin, sei es auf einen Geburtstag, einen Stadtbummel oder ins Restaurant. „Wem das nicht passt, der hat Pech gehabt“, stellt Brigitte fest und setzt hinzu: „Die Blicke der Leute registriere ich mittlerweile gar nicht mehr. Ich blende sie einfach aus.“

Mitleid unerwünscht

Drei Wünsche hat die Mutter an die, denen der Kontakt mit Menschen mit Handicap offensichtlich schwer fällt: „Sie sollten barrierefrei denken lernen. Sie sollten Menschen, die anders sind, offen, natürlich und ohne Mitleid begegnen. Und sie sollten, anstatt blöd zu gucken, uns direkt ansprechen, wenn sie etwas wissen wollen.“

Am 3. Dezember ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung – ein von den Vereinten Nationen ausgerufener jährlicher Gedenk- und Aktionstag, der das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Probleme von Menschen mit Behinderung wachhalten und den Einsatz für die Würde, Rechte und das Wohlergehen der Behinderten fördern soll.

Autismus wird häufiger diagnostiziert

In den USA werden zunehmend mehr Fälle von Autismus-Störungen bei Kindern diagnostiziert, berichtet die Stiftung Warentest. Laut der „Centers for Disease Control and Prevention“ hätten sie sich zwischen 2000 und 2008 fast verdoppelt. Im Jahr 2000 habe nur eines von 150 acht­jährigen Kindern als autistisch gegolten, 2008 bereits eines von 88. Das heiße nicht zwangs­läufig, dass die Krankheit tatsäch­lich öfter vorkomme als früher. Durch geänderte diagnostische Möglich­keiten und Kriterien könne sie jedoch besser fest­gestellt werden. Das Asperger-Syndrom – das ist eine mildere Form von Autismus – werde zum Beispiel offiziell erst seit Anfang der 1990er Jahre zu den autistischen Störungen gezählt. Für Deutsch­land würde es keine genauen Angaben geben. Die Vereinten Nationen würden schätzen, dass welt­weit 67 Mio. Menschen von Autismus betroffen seien. Jungen würden drei- bis viermal häufiger an autistischen Störungen erkranken als Mädchen.

 
Silke Bromm-Krieger – LW 48/2012