„Voll peinlich“
Aufklärung in der Vorpubertät - Wie sag ich“s dem Kind?
Ab neun, zehn Jahren interessieren Kinder sich für alles, was mit Mann- und Frausein, Liebe, Sex und Kinderkriegen zu tun hat – und vieles sollten sie auch wissen. Wie man dieses für Erwachsene und Kinder durchaus etwas peinliche Thema am besten anpackt, hat Sigrid Tinz zusammengestellt.
Irgendwann nach dem neunten Geburtstag ist es oft so weit: Das Kind schließt die Badezimmertür ab, setzt keine Mützen mehr auf – „lieber krank als kacke aussehen“ – und weigert sich, weiterhin in der bislang heiß geliebten Yakari-Bettwäsche zu schlafen.Das ist sie, die sogenannte Vorpubertät, in der die Hormone langsam Fahrt aufnehmen. Und sie erreicht unsere Kinder früher als die Generation ihrer Eltern und Großeltern: Mit durchschnittlich elf Jahren bekommen junge Mädchen das erste Mal ihre Tage, manche auch schon mit neun; mit durchschnittlich dreizehn haben Jungen ihren ersten Samenerguss, manche auch schon mit zehn.
Ein neunjähriges Kind sollte also durchaus wissen, was in seinem Körper passiert. Einfach damit es vorbereitet ist, wenn sich etwas verändert.
Aber: Sollte man auch schon so richtig über Sex reden? Oder macht man die Kinder damit unnötig heiß auf ein Thema, für dass sie doch noch ein bisschen jung sind? „Das Alter beim ersten Mal hat sich in den letzten 20 Jahren kaum verändert, in den letzten Jahren ist es sogar wieder gestiegen: Kaum jemand ist jünger als 14 Jahre, viele sind älter als 16. Und fast drei Viertel der Jugendlichen benutzen dabei Kondome“, heißt es in der aktuellen Jugendstudie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Und weiter: „Je mehr ein Kind weiß und je besser es aufgeklärt ist, desto selbstbewusster und eigenverantwortlicher gehen sie in der Regel damit um.“
Gute Aufklärung beginnt allerdings nicht erst mit neun, sondern schon von klein auf: Zum Beispiel sollten Eltern nicht nur Nase, Auge, Ohren, Füße so nennen, wie sie heißen, sondern auch die Geschlechtsteile. Wie genau, das ist Familienkultur, aber eben nicht umschwurbeln mit Begriffen wie „wasch dich auch zwischen den Beinen“ oder „vorne“.
Und: Fragt das Kind etwa, wo es herkommt, dann sollten Eltern darauf so genau wie nötig antworten und so knapp wie möglich. „Aus Mamas Bauch“ reicht meistens schon. Ein vorauseilend gehaltener Vortrag über das große Ganze verwirrt das Kind eher. Wenn es auch wissen will, wie es da hinein gekommen ist, dann wird es weiter fragen. So lernen Kinder nicht nur nach und nach diesen Teil der Welt kennen, Eltern lernen auch, nach und nach ohne große Verkrampfungen darüber zu reden.
Die ersten Hürden nehmen
Alles schön und gut so weit, berichten viele Eltern. Nur ist das Thema jetzt plötzlich dem Kind „voll peinlich“. „Du bist ja eklig“, halten sie einem vor, knallen die Zimmertür zu oder werfen sich hysterisch kichernd aufs Bett. Nur weil Mutter und Vater die Wörter „Tage“, „Tampons“ oder „erster Samenerguss“ erwähnt haben.
„Ganz normal“, sagt Christina Gutsmuths. Sie ist Sexualpädagogin und Dozentin am Institut für Sexualpädagogik in Dortmund und erklärt auch warum: „Die Pubertät ist die Zeit der Autonomie. Die Kinder beginnen sich eigene Gedanken zu machen, sie wollen für sich selbst entscheiden und sich von anderen abgrenzen. Dabei hilft ihnen das Schamgefühl.“ Wobei „Intimität“ das bessere Wort sei.
Intimität des Kindes
IM NETZ
Auf www.sextra.de (von profamilia für Jugendliche) oder www.loveline.de (von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) finden Kinder und Jugendliche alles, was sie wissen wollen. Auf www.bravo.de werden tradtionell alle Fragen rund um Liebe, Sex und Zärtlichkeit beantwortet, die viele nicht zu fragen wagen, verantwortungsbewusst und mit jahrzehntelanger Erfahrung.
TinzDiese Intimität schütze ihr Innerstes vor Zugriff und vor Grenzverletzungen. Dies äußere sich durch einen Vorhang aus Schweigen, Sich-Ekeln, Kichern oder unanständigen Witzen. „Das Beste ist, dies zu akzeptieren“, sagt Gutsmuths. „Akzeptieren Sie zum Beispiel, wenn das Kind die Badezimmertür abschließen möchte, auch wenn bei Ihnen zu Hause eigentlich keine Türen abgeschlossen werden.“ Und auch mit Worten dürfe man sein Kind nicht nackig machen. Also nicht beim Samstagsfrühstück verkünden – weil man ja so eine offene Familie ist – dass die Tochter heute Nacht das erste Mal ihre Tage bekommen hat.
Also gar nicht reden, wenn das Kind nicht will?
Andererseits spähen Kinder doch angestrengt hinter dem Vorhang hervor und versuchen jeden Fitzel Information zu erwischen. Was in der heutigen Welt nicht besonders schwer ist: Jeder Werbeblock zeigt mehr nackte Haut als Opa vermutlich in seiner ganzen Jugend zu Gesicht bekommen hat. Allerdings werden sexuell aufreizende Bilder im Fernsehen, auf Plakaten, im Internet als Verkaufsanreiz für bestimmte Produkte eingesetzt oder um mit Sex an sich Geld zu verdienen – aber nicht, um Vorpubertierende verantwortungsvoll mit den schönen und richtigen Seiten von Sex bekannt zu machen. So ist Periodenblut in der Werbung blau und Pornofilmchen sind wie Märchen.
Sexualkunde in der Schule
In der dritten oder vierten Klasse steht verpflichtend Sexualkunde im Lehrplan. „Allerdings ist die Qualität von Schule zu Schule und von Lehrer zu Lehrer sehr unterschiedlich“, sagt Gutsmuths, die Lehrer und Erzieherinnen fortbildet und auch selbst viel in Schulklassen arbeitet. Und: Sexualkunde findet in einer aufgeregten Kinderschar statt, die sich in der Pause davor mit Mutmaßungen und Halbwissen überboten hat und versucht, abschreckende Wörter für diese Dreibuchstabenkunde zu finden.
Statt biologischer Fakten wie Zyklusablauf oder Geburt beschäftigt die Kinder viel Wichtigeres: Ist der Penis zu klein, der Bart zu früh, der Busen zu groß, die Periode zu spät? „Sie wollen ja nicht nur wissen, wie es funktioniert. Unausgesprochen schwingt in jeder Frage mit: Bin ich normal?“, weiß Christina Gutsmuths. Ideal wäre es also, wenn es Eltern gelingt, in jede Antwort ebenfalls mehr oder weniger unausgesprochen ein „Ja, du bist normal“ einzubauen.
Ein paar ruhige Minuten Gedanken sollten sich Eltern also machen: Was will ich überhaupt? Soll mein Kind einfach nur Bescheid wissen, was mit ihm passiert? Will ich es schützen, vor Liebeskummer, Krankheiten, unangenehmen körperlichen Erfahrungen? Wünsche ich ihm eine freie, selbstbestimmte, lustvolle Sexualität? Wo ist meine eigene Schamgrenze? Und wie reagiere ich, wenn sie erreicht ist?
Wenn das Kind zwischen zwei Gabeln Spaghetti von seinen Eltern wissen will, ob sie eigentlich auch Oral- und Analsex machen und was sie davon besser finden – da kann einem schon mal die Luft wegbleiben.
Fragen und Antworten aufschreiben
Christina Gutsmuths empfiehlt, das dann auch genau so zu sagen: „Jetzt hast du mich aber erwischt, das ist mir total unangenehm.“ „So fällt einem kein Zacken aus der Krone“, sagt sie. „Im Gegenteil: Die Kinder fühlen sich ernst genommen.“ Antworten müssen Eltern auf so eine Frage nicht, wenn es ihnen unangenehm ist. „Auch das sollten sie allerdings genau so sagen, beispielsweise: „Das ist mir zu privat“.“ Sie sollten nicht dem Kind den schwarzen Peter zuschieben, nach dem Motto: „Frag nicht solche unanständige Sachen!““
Manche Eltern führen zusammen mit ihrem Kind eine Art Tagebuch: Das Kind schreibt seine Frage hinein, dann wenn sie ihm einfällt, und legt es Mutter oder Vater hin. Die antworten dann, wenn sie Zeit und Ruhe haben, darüber nachzudenken, wie sie es am besten formulieren. Vieles geht leichter, wenn man sich nicht direkt dabei in die Augen schauen muss. Deshalb eignen sich auch längere Autofahrten, Seite an Seite, gemeinsame Stall- oder Hausarbeit oder ein Nachmittag über einem 2 000-Teile-Puzzle. „Erzählen Sie dann doch einfach mal von sich“, rät Christina Gutsmuths den Eltern, „wie sie sich damals gefühlt haben, was sie gedacht haben oder als sie das erste Mal verliebt waren.“ Und: Ãœber Liebe, Sex und Zärtlichkeit muss man nicht nur ernsthaft und sowohl politisch als auch biologisch korrekt reden. „Versuchen Sie es doch mal mit Humor.“ Oder Sie legen ihrem Kind einen Zettel mit Webadressen auf den Schreibtisch, ein gutes Buch oder Flyer aufs Nachtschränkchen.
Aktuelle Infos
Auch Eltern können von den Büchern oder Websites noch etwas lernen. Zum Beispiel, dass schlichte Worte besser sind als besonders fachliche oder jugendliche: „Sex haben“ statt „Koitus“ oder „Poppen“. Außerdem erhalten Eltern Infos darüber, welche Fragen die Kinder und Jugendlichen wirklich haben und welche Art der Antwort ihnen am besten weiterhilft.
– LW 18/2013