„Der Ringelschwanz zeigt, wenn etwas nicht stimmt“

Mit Funktionsbereichen im Stall gegen das Schwanzbeißen

In der ökologischen Schweinehaltung gibt es umfangreiche Erfahrungen mit Ringelschwanz-Ferkeln. Könnten konventionelle Betriebe von dem Wissen profitieren? In manchen Punkten schon, allerdings brauche man viel Platz und Stroh sei nicht alles. Das sagte kürzlich Jan Hempler von der Landwirtschaftskammer Niedersachsen in der Online-Seminarreihe des Wissensnetzwerks Kupierverzicht, in der Bio- und alternative Haltungssysteme für Schweine vorgestellt wurden. Der Agrarjournalist Michael Schlag berichtet.

Auch eine Großgruppe mit viel Platz je Tier sowie Stroh ist kein Garant für einen intakten Ringelschwanz, so auch in diesem Stall. Der Liegebereich wurde nachträglich mit Abdeckungen versehen, die die Fläche darunter von dem direkten Licht der Fenster abschirmen. Strohballen sorgen zudem für Verkehrsberuhigung, denn die Tiere nutzten die lange Außenwand gerne als Rennbahn. Andere Tiere konnten sich nicht ausruhen, was zu Schwanzbeißen führte. Die Abdeckung schützt die Tiere auch vor der Zugluft durch die Öffnungsspalten unter den Fenstern.

Foto: Hempler

Das Landwirtschaftliche Bildungszentrum (LBZ) Echem nimmt seit fünf Jahren am Ringelschwanzprogramm des Landes Niedersachsen teil „und wir liegen bei 2 bis 3 Prozent nicht intakten Schwänzen“, sagt Jan Hempler. Dabei werden aber nicht nur tatsächlich angebissene Ringelschwänze gerechnet, sondern auch, wenn nur die Quaste fehlt oder ein Schwanz angetreten oder eingeknickt ist und Hempler meint: „Das ist ein gutes Ergebnis, richtig mit Kannibalismus haben wir seit zwei bis drei Jahren eigentlich überhaupt nichts mehr zu tun.“ Was ist im Ökostall anders? Erster Unterschied: „Wir haben in den Betrieben sehr viel Platz“. Die Biorichtlinie schreibt in der Endmast 1,3 m2 vor, plus einen Auslauf 1,0 m2, macht zusammen 2,3 m2 pro Schwein. Das sei für den Ringelschwanz elementar, sagt Hempler: „Wir müssen auf jeden Fall mehr Platz anbieten, um Stress zu reduzieren.“ Denn mehr Platz erlaubt die Aufteilung des Stalls in Funktionsbereiche. Der Auslauf im Freien sei ja nicht deshalb vorgeschrieben, weil es für Verbraucher schön aussieht, sondern weil es den Bedürfnissen der Tiere entspricht: Er ist immer zugänglich und „die Tiere können sich zu jeder Tages- und Nachtzeit ihr Klima aussuchen“. Zudem hätten Außenreize bekanntermaßen eine positive Wirkung für die Stressresistenz. Der Auslauf verschafft den Tieren zudem frische Luft auf natürlichem Weg, das ist für Hempler „das A und O: Wir haben keine Zwangsbelüftung“. Häufig nämlich sei Zwangsbelüftung mit Zugluft verbunden – eine der großen Ursachen für Stress in den Ställen.

Der Maststall mit Auslauf im Landwirtschaftlichen Bildungszentrum Echem wurde Anfang der 1990er Jahre entwickelt, auf der Grundlage alter niedersächsischer Stallpläne aus der Zeit um 1920. „Wir haben damals überlegt, wie kriegen wir Schweine auf Stroh, arbeiten uns dabei aber nicht kaputt“, erzählt Jan Hempler. Es entstand ein Kaltstall, aber nicht als Offenfrontstall, sondern als gekapseltes System ohne Isolierung. Isoliert ist nur das Dach, damit der Stall im Sommer nicht zu warm wird. Dieser Stall bietet drei Klimazonen (siehe Grafik): in der Mitte das überdachte Schweinebett, das wird von den Schweinen mit ihrer Körperwärme selbst aufgeheizt, es gibt keine Heizelemente. Im weiteren Bereich innerhalb der Stallhülle bleibt die Temperatur „in jedem Fall über Null Grad“. Und schließlich die Ausläufe nach links und rechts, „hier bieten wir das Außenklima an, so wie es jeden Tag ist“. Die Schweine haben also immer drei Temperaturzonen zur Auswahl.

Der Ruhebereich muss stimmen

Eine wesentliche Funktion kommt dem Ruhebereich zu. Die Futterautomaten stehen immer abseits davon und nahe des Auslaufs, „so habe ich hier eine richtige Ruhezone, wo die Schweine nicht gestört werden“, sagt Hempler. Die Abdeckung sorgt nicht nur für den Wärmeerhalt, sondern auch für Dämmerlicht; auf jeden Fall sollten es hier weniger als 40 Lux sein. Die Futterautomaten stehen immer frei und von allen Seiten zugänglich im Raum – nicht an der Wand und schon gar nicht in einer Ecke, um stressiges Drängeln zu vermeiden. Der Auslauf ist dann der Aktivitätsbereich für die Tiere und „in einem gut geführten Stall sind 75 Prozent der Tiere draußen.“ Draußen können die Schweine im Stroh wühlen, der Auslauf steuert zudem das Kotverhalten der Schweine. Durch ein Gitter haben die Tiere Kontakt zur Nachbargruppe, und weil sie ihr Revier abgrenzen wollen, setzen sie genau hier ihren Kot ab. So bleibt der Kot außerhalb der Stallhülle, im Stall selber entsteht kein Ammoniak und die Ställe kommen ohne Spaltenböden aus.

Tiere koten in einer Ecke ab

Nach 30 Jahren Erfahrung mit alternativen Haltungssystemen sagt Jan Hempler: „Ich kann heute eine Garantie geben, dass 95 Prozent der Tiere nach außen koten.“ Die Steuerung funktioniert sogar noch präziser, der Kot verteilt sich nämlich nicht im ganzen Auslauf, sondern das Meiste fällt in einer Ecke an: „Das ist in der Regel der hellste Punkt, der zugigste Punkt und dort, wo Wasser angeboten wird, wo es nass ist.“ In allen Punkten mithin das genaue Gegenteil des warmen Ruheraums im Innern des Stalls. Das Fazit, bezogen auf das Verhindern von Schwanzbeißen: Die Tiere trennen ihre Bereiche „und damit habe ich im Grunde schon eine Entzerrung aller Stressfaktoren“, sagt Jan Hempler.

Auf die Details kommt es an

Allerdings kommt es sehr darauf an, den Tieren die Funktionsbereiche tatsächlich genau passend anzubieten. Nur wenige falsche Details, und das ganze System kann kippen. Hempler beschrieb ein Beispiel aus seiner Beraterpraxis: Ein konventioneller Betrieb hielt seine Mastschweine in Großgruppen mit viel Platz und viel Stroh. Alle Schweine sind kupiert. Mit der Umstellung auf Öko blieben die Ringelschwänze dran, „und dann hat es gekracht im Stall“, sagt Hempler. Schwanzbeißen, obwohl die Tiere viel Platz hatten, mit Tiefstroh, Ruhezone, abgetrenntem Fressbereich und dennoch „hat die ganze Sache nicht funktioniert“. Genaue Beobachtung konnte klären, warum: Die Tiere kamen nicht zur Ruhe, ihr Liegebereich war zu hell, zugig und laut. Am Ende brauchte es nur wenige Umbauten. Der Liegebereich – im Bild auf Seite 28 – bekam innerhalb des Stalls eine zusätzliche Abdeckung, sie schirmt die Fläche darunter von dem direkten Licht der Fenster ab, der Liegebereich ist jetzt dunkler. Außerdem schützt die Abdeckung die Tiere vor der Zugluft durch die Öffnungsspalten unter den Fenstern. Der Bereich wurde dann noch mit Strohballen verbarrikadiert, denn ausgerechnet durch den Ruhebereich führte bislang eine „Rennbahn entlang der längsten Wand“. Diese war jetzt blockiert, der Bereich war jetzt dunkler, windstill und verkehrsberuhigt und „danach war das Thema Schwanzbeißen so gut wie weg“, sagt Jan Hempler.

Oft seien es nur solche kleinen Elemente, die man ändern muss. Die Erfahrung zeige aber auch: Stroh allein „ist überhaupt kein Garant gegen Schwanzbeißen“ . Unruhe und Stress mit Schwanzbeißen entstanden in diesem Fall, weil die Funktionsbereiche nicht eindeutig getrennt waren: Ruhebereich und Aktivitätsbereich kamen sich in die Quere. Auch waren die Eigenschaften des Ruhebereichs nicht klar erkennbar definiert. Es war zu hell und das Merkmal Zugluft sollte nur an der Kotstelle auftreten, niemals im Liegebereich. Die Klimaführung ist für Hempler extrem wichtig, „und für mich der Grund, im alternativen Bereich mit geschlossenen Ställen zu arbeiten“. Offene Systeme sieht er demgegenüber skeptisch, denn „ich kann damit Zugluft im Stall provozieren, was wiederum zu Unruhe im Liegebereich der Tiere führt“.

Funktionsbereiche schon in der Abferkelbucht

Die Schweine werden in der LBZ Echem schon früh mit den Funktionsbereichen der Ställe vertraut gemacht, das beginnt bereits in der Abferkelbucht. Schon hier gibt es die klare Aufteilung: fressen, säugen, ruhen, plus der Auslauf als Kot- und Aktivitätsbereich. So erleben es die Ferkel ab Geburt und Hempler sagt: „Das ist für mich immer fantastisch, wie schon die Saugferkel zum Koten und urinieren aus dem Nestbereich rausgehen und hinten im Auslauf ihr Geschäft verrichten.“ Die Sauen machten es genau so, und wie es scheint steht dahinter der Instinkt der Tiere. Es lasse sich selbst bei Sauen beobachten, die vorher im Kastenstand gelebt hätten, „sie reagieren sofort darauf, wenn sie in einer Bucht die Möglichkeit haben, ihre Funktionsbereiche einzurichten“.

Viel Rohfaser im Futter

Was noch anders ist in der Biohaltung: Die Tiere bekommen viel Rohfaser, die Richtlinien fordern das Angebot von Grundfutter, meist gegeben als Stroh oder Heu, seltener als Silagen. Damit sind die Tiere beschäftigt, ihr Magen ist immer voll und „von daher besteht kein Grund, sich aufzuregen und dem Nachbar eins zu verpassen“. Hempler zitierte dazu aber auch eine verbreitete Sorge: Das Schwein mag mit viel Raufutter zwar zufrieden sein und entspannt, aber wenn der Magen damit voll ist, nimmt es kein Kraftfutter mehr auf. Hempler sagt aber: „Das kann ich nicht bestätigen.“ Die Biobetriebe in Norddeutschland hätten Tageszunahmen um 850 Gramm, in Echem sogar 1 000 Gramm, „da sieht man eigentlich, es funktioniert“. Raufutter müsse aber täglich frisch angeboten werden, es dürfe nicht den Geruch des Stalls annehmen: „Es hat keinen Sinn, eine Raufe oder einen Automaten für eine Woche aufzufüllen, dann wird es für die Schweine uninteressant“. Am besten sei, man streut es täglich von Hand in den Stall, das gibt nebenher eine gute Gelegenheit zur Tierbeobachtung. Raufutter über eine aufgehängte Raufe anzubieten, sei ohnehin keine ideale Methode, denn „eigentlich ist ein Schwein nicht dazu geboren, auf dem Baum zu fressen.“ Viel lieber wühle es unter der Erdoberfläche.

Verbreitet ist auch die Sorge, ob Schweine mit der Öko-Fütterung immer genug Eiweiß bekommen. Bezogen auf das Schwanzbeißen könnte das ein Stressfaktor sein. Hempler sieht darin kein generelles Problem, er schaut aber auf die Versorgung mit einzelnen Aminosäuren. Auf der einen Seite habe man in der Biohaltung immer einen geringeren Methioninanteil als eigentlich zu fordern ist. Auf der anderen Seite hätten Biobetriebe aber aufgrund der Leguminosen in den Mischungen hohe Gehalte an Tryptophan und „es gibt Anzeichen, dass Tryptophan den Stress reduzieren kann“.

Einen Mittelweg zwischen Bio und konventionell entwickelte Gabriele Mörixmann mit dem „Aktivstall für Schweine“. Auf ihrem Hof in Melle (bei Osnabrück) hält sie 700 Schweine von Aufzucht bis Mast in einer Großgruppe. Seit 2012 entwickelte die Agrarökologin eine Haltungsform für Schweine mit viel Bewegungsraum in verschiedenen Zonen, dabei habe sie „die Erfahrungen aus Bio und konventionell in ein Stallkonzept gepackt und das Ganze „Aktivstall für Schweine' genannt“. Die Schweine leben in einer Großgruppe und haben immer freie Wahl, wo sie sich aufhalten wollen: Mit einem Drittel Strohfläche, einem Drittel Spalten und einem Drittel Auslauf „ist es ein Stall für jede Tageszeit und für jede Jahreszeit“, sagt Gabriele Mörixmann, im Mittelpunkt aber stehe der Landwirt mit seinen Voraussetzungen: „Der Ringelschwanz hängt viel an der Person, die das macht“. Sie sieht den Ringelschwanz heute als Bereicherung, vieles im Betrieb habe sich damit verbessert, denn „der Ringelschwanz zeigt einem, wenn was nicht stimmt“.

Stress der Tiere in Umstellungsphasen reduzieren

Die Tiere erfahren, vor allem wenn sie klein sind, eine intensive Betreuung. Ein Beispiel: Ein Ferkel wechselt vom Sauenhalter hierher auf den Hof in die Aufzucht. Was das für das kleine Tier bedeutet, fasst Mörixmann so zusammen: „Muttertier weg, Milch weg, oft noch Geschwister weg, das ist Stress pur.“ Die ersten drei Tage in der neuen Umgebung seien dann entscheidend für alles weitere. In diesen Tagen solle man sich Zeit nehmen, den Stress des Tieres zu lindern: leckeres Fressen anbieten, „das Wasser die ersten Tage vielleicht mit Cola aufpeppen“, damit die Ferkel immer wieder hingehen und sich nicht nur mit Trauern beschäftigten. „Ich gebe in das Futter auch Milchpulver“, sagt Mörixmann, um den Ferkeln über das Absetzen der Muttermilch hinweg zu helfen, „und ich fahre gut damit“. Abrupte Wechsel beim Futter sind ein bekannter Faktor für das Auftreten von Schwanzbeißen, auch dazu hat Mörixmann einen praktischen Rat: „Zur Tierkontrolle gehört für mich auch, einmal täglich das Futter zu probieren.“ Schließlich könne auch in einer Futtermühle mal ein Mischungsfehler passieren, wenn man das Futter aber selber täglich schmeckt, falle ein Unterschied sofort auf.

Ringelschwanz fängt bei Zuchteber und Zuchtsau an

Mörixmann selbst betreibt keine Sauenhaltung, dennoch geht ihr Konzept bis zur Sau, denn „die Sau, die den Ringelschwanz heile durchgebracht hat, vererbt ihn mütterlicherseits besser an die Nachkommen“. Was für die Sau gilt, das gelte natürlich auch für den Vater. Mörixmann berichtete auf dem Seminar des Netzwerks Kupierverzicht, sie fahre selbst zur Eberstation und nehme die Eber in Augenschein, die ihr Sauenhalter einsetzen soll: „Wie sieht das Haarkleid aus, wie sind die Klauen, die Ohren, ist der Schwanz heil?“ Sie beschrieb zwei Eber, beide mit Zuchtwert über 140. Einer hatte Schäden an der Schwanzhaut und eine entzündete Schwanzspitze. Ein anderer hatte Schäden an den Ohren, erkennbar eine Folge früherer Ohrnekrosen, und sie meint dazu: „Wer Sperma von solchen Ebern einsetzt, muss doch nicht glauben, dass hinten der Mäster eine Chance hat, den Ringelschwanz heil durchzubringen.“ Nach 24 Jahren Erfahrung mit der Haltung unkupierter Schweine sagt sie: „Der Ringelschwanz fängt beim Zuchteber und bei der Zuchtsau an.“ Auf dem eigenen Betrieb habe sie mittlerweile eine Quote heiler Schwänze in Aufzucht und Mast von 97 bis 98 Prozent.

Ein Schwein im Aktivstall hat 1,5 Quadratmeter Platz, davon je ein Drittel Stroh und Auslauf, aber auch Spalten. Denn es soll im Sommer auch „Liegekühlen“ können und dabei zeigte sich: Bei Temperaturen über 25 Grad bevorzugen viele dafür den Spaltenbodenbereich. Der Aktivstall für Schweine hat immer wieder unkonventionelle Lösungen. Zum Wühlen haben die Schweine eine Halle mit Stroh, allerdings koteten manche Schweine auch hier anstelle im Auslauf draußen oder auf den Spalten. Die Lösung: Strohbuden aus Großballen. Der Hintergrund ist die klare Zuweisung von Funktionen in den Haltungsbereichen. Gabriele Mörixmann erklärt es plausibel: „Weil wir den Bereich jetzt besser strukturiert haben, ist die Kotecke nur noch ganz am Rand.“ Für den Betrieb mit seinen 700 Tieren bedeute das zudem 100 Quaderballen weniger Verbrauch an Stroh im Jahr (siehe aktivstall-fuer-schweine.de).

 – LW 25/2021